Einer neuen Zukunft entgegen (1) - Nordsee (als Buch)
Auruliyuth:
Kapitel 5 – Ein Badeunfall?
Es war Freitagnachmittag, und ich hatte wieder einmal mein Notebook auf einer Bank am Strand ausgepackt. Die Situation bei der Massage, als ich meinte Flügel gespürt zu haben, beschäftigte mich mehr als ich mir selber eingestehen wollte.
Im gemeinsamen Chat fand ich heute allerdings nur Phönix. „Eagle hast du ganz knapp verpasst, Steffi. Und Argus ist auch noch unterwegs. Wie geht es Dir? Du bist heute früher dran als sonst.“ Irgendwie klang sogar die Schreibweise von Phönix besorgt.
„Ich brauchte gerade etwas Freiraum, daher habe ich die freiwillige Freitagnachmittagsveranstaltung kurzerhand sausen lassen... ich glaube, ich habe anfangs der Woche etwas sehr dummes angestellt...“
„Wenn Du darüber reden willst, ich hab immer ein offenes Ohr für Dich, Steffi.“ „Ich weiß nicht, ob Du mir da helfen kannst, Phönix. Ich kann es noch nicht einmal selber verstehen.“ „Jetzt beruhige Dich erst einmal. Und dann erzähl der Reihe nach. Ich verspreche Dir nicht zu lachen. Wenn Du meine Geschichte hören würdest, würdest Du auch denken, ich sei verrückt, glaub mir.“
So ermutigt begann ich mein Erlebnis bei der Massage zu erzählen. Ich brauchte jemand, dem ich dies alles anvertrauen konnte. Und bei Phönix sagte mir mein Gefühl, dass er mich verstehen würde. Dass ich dabei im Gruppenchat schrieb, war mir in meiner Verwirrung gar nicht aufgefallen, und Phönix hatte seine Gründe, warum er mich nicht in einen Einzelchat bat.
Phönix schrieb immer wieder nur kurze Sätze, wie als aktiver Zuhörer. Dies ermutigte mich, ihm alles offen zu schildern. Auch, dass es mir inzwischen leid tat, dass ich Jens Unrecht getan hatte.
Ich war in Gedanken wieder da, wo ich den Hörer einfach aufgelegt hatte. Einzelne Tränen liefen mir über das Gesicht. Hoch oben in der Luft zog ein Adler seine Bahn. Mir war für einen Moment, als würde er nach etwas bestimmtem Ausschau halten. Phönix schrieb mir ein paar tröstende Worte. Es war genau das, was ich jetzt gerade brauchte. Gerade so als ob er mich direkt sehen könnte.
Träumend sah ich auf die Nordsee, die mit gierigen Wellen die rauschende Flut zurück brachte. Die Sonne war hinter dicken, regenschwangeren Wolken verschwunden und der Herbstwind frischte langsam auf.
Wenn doch manchmal alles so einfach wäre wie die Fantasie.
Ein paar Meter entfernt im Wasser, fuchtelte jemand wild gestikulierend um sich und versuchte gegen den Wind und die Wellen laut rufend auf sich aufmerksam zu machen. Es war ein Mann, und er war halb gebückt. 'Wusste er denn nicht wie gefährlich die Strömung bei Flut war?' Im selben Moment jedoch drang sein Hilferuf bis zu mir durch, und ich nahm erschrocken wahr, dass er zudem noch bekleidet war.
Er schwebte in akuter Lebensgefahr und brauchte dringend Hilfe. Selber Hilfe suchend blickte ich mich um. Aber außer ein paar Teenies und einer jungen Familie weiter weg, befand sich niemand in Sicht- oder Rufweite.
Ich griff zu meinem Handy und wählte sofort den Notruf an. In den Chat mit Phönix schrieb ich ein eiliges „sry, muss dringend afk“. Ich klappte dann eilig mein Notebook zu und steckte es in meinen Rucksack, den ich sorgsam verschloss.
Gleichzeitig winkte ich die Teenies zu mir her, wovon sich zwei Mädchen kurz zögernd, jedoch bereitwillig aus der Gruppe lösten und auf mich zukamen.
Ich hatte Glück, dass es hier überhaupt ein Funknetz gab. Während ich auf einen freien Platz bei der Notrufzentrale wartete, deutete ich alarmierend zu dem hilflosen Mann im stetig steigenden Wasser. Die Mädchen sahen mich nur ratlos an.
In dem Moment meldete sich jedoch der Notruf, und ich erklärte die Situation so, dass sowohl die Dame beim Notruf, wie auch die beiden Teenies sofort verstanden, was ich jeweils wollte: „Hallo? Mein Name ist Steffi Reimor. Ich stehe hier am Strand, kann allerdings den Ort nicht genau benennen. Irgendwo um Friedrichskoog sind wir. Aber ich habe hier zwei nette Teenager, die vielleicht gleich mehr dazu sagen können.
Im Wasser braucht ein Mann dringend Hilfe. Seit etwa fünf Minuten hat er sich nicht mehr von der Stelle bewegt und fuchtelt wild mit den Armen. Die Flut steigt heute extrem schnell. Ich bin in meinem Heimatort ausgebildete Rettungsschwimmerin. Mein Handy gebe ich jetzt den beiden Mädchen neben mir für weitere Fragen.“
Noch bevor die nette Dame beim Notruf auf meine Ansage reagieren konnte, hatte ich mein Handy bereits den Mädchen übergeben. Die Beiden hatten aufmerksam zugehört und immer wieder hilfsbereit genickt. Sie wussten um die Gefahr von Ebbe und Flut, aber keine von beiden war kräftig genug, oder so durchtrainiert wie ich.
„Hier gebe ich euch mein Handy zu treuen Händen. Und weil ich weiß, dass ich mich auf euch beide verlassen kann, sind hier auch mein Rucksack und meine Kleider um darauf aufzupassen. Würdet ihr das bitte für mich tun?“
Eine Antwort wartete ich auch hier gar nicht erst ab, weil ich es sehr eilig hatte dem Mann zu helfen. Aus meiner Trainererfahrung heraus wusste ich, wenn jemand bereits schon zwei- oder dreimal Ja gesagt hatte, dann fiel ihm ein Nein bedeutend schwerer.
Unter meinen Kleidern hatte ich bereits meinen Bikini an, denn eigentlich hatte ich heute Mittag noch etwas im Klinik eigenen Schwimmbad schwimmen gehen wollen. Meine Schuhe und Strümpfe ließ ich ebenfalls zurück. Dafür holte ich mir geistesgegenwärtig eine aufblasbare Schwimm- oder Wassernudel aus meinem Rucksack und blies sie auf dem Weg zum Wasser eilig auf.
Dieses Hilfs- und Rettungsmittel war immer noch besser als gar keines. Mit gleichmäßigen Schwimmbewegungen kam ich gut vorwärts, wobei ich mit einer Hand die lange Wassernudel hinter mir herzog. Bei jeder Welle tauchte ich ab und nützte so die Gegenströmung zur Flut unter Wasser um vorwärts zu kommen. Der Mann wartete scheinbar gefasst, aber ich konnte dennoch bereits die flackernde Panik in seinen Augen erkennen.
Die Flut stieg scheinbar immer schneller. Noch ein paar Meter, dann war ich bei ihm. „Hilfe ist bereits unterwegs. Mein Name ist Steffi. Und wie heißen Sie?“ Ich versuchte eine Vertrauensbasis zu schaffen, damit sich der Mann in der Flut nicht so verloren vorkam und neue Hoffnung schöpfen konnte.
Gleichzeitig legte ich ihm die Schwimmnudel um die Brust, die er dankbar und eisern wie ein Rettungsring festhielt. Sie gab ihm etwas sicheren Halt zurück. „Heiner. Ich heiße Heiner Maasgold.“ Er deutete schmerzverzerrt nach unten: „Mein Fuß ist zwischen den Steinen eingeklemmt. Ich wollte doch nur meine beiden Kinder vom Watt zurück auf den Deich holen. Dabei bin ich beim Zurücklaufen abgerutscht und zwischen den nassen Steinen hängen geblieben. Und jetzt komme nicht mehr allein da raus!“
Die letzten Worte rief er schon in Panik. Ich hielt ihn beruhigend fest: „Ich werde jetzt nach unten tauchen und versuchen Sie zu befreien. Die Rettungskräfte sind verständigt und bereits unterwegs. Halten Sie solange durch?!“
Es war mehr eine rhetorische Frage, aber der Mann war dadurch ruhiger geworden und nickte gefasst. Er war ja so froh, dass ihm endlich geholfen wurde, wenn er auch noch nicht wusste, wie ich ihm ohne professionelle Ausrüstung helfen konnte.
Während ich nach unten tauchte um nach seinem eingeklemmten Fuß zu sehen, hatte ich mich zuvor so vor ihn gestellt, dass mich die Flut nicht wegreißen konnte. Zwischen den Felsen zu laufen war bei Ebbe schon sehr gefährlich, aber fast barfuß und bei einsetzender Flut, das grenzte schon an bodenlosem Leichtsinn.
Seine Ferse hatte sich in dem Spalt so verklemmt, dass der Mann den Fuß weder vor noch zurück bewegen konnte. Durch die Verletzung war der Fuß zudem bereits dick geschwollen, trotz des kalten Wassers.
Ich prüfte den Untergrund und welche Steine sich bewegen ließen. Und ich hatte sogar Glück dabei. Zwei Steine waren so verkeilt, dass sich der Fuß aus seiner Falle löste, sowie die Steine miteinander nachgegeben hatten. Rasch tauchte ich wieder auf zu dem Unfallopfer. Auch mein Luftvorrat war schließlich nur begrenzt.
Aus seiner Zwangslage befreit, fiel der Mann sogleich in eine erlösende Bewusstlosigkeit als er sich etwas entspannte. Die Wassernudel hielt ihn über Wasser und schaukelte ihn in der Flut heftig hin und her. Eilig griff ich nach ihm und zog ihn hinter mir her in Richtung Strand, wo ich inzwischen ein paar Rettungskräfte ausmachen konnte.
Nun nützte ich erneut jede Flutwelle schwimmend aus, und ließ uns zusätzlich oben auf den Wellen zum Ufer treiben. Die letzten Meter packten die Sanitäter kräftig mit an und zerrten uns gemeinsam an den Strand zurück.
Obwohl der Nachmittag herbstlich sonnig begonnen hatte, zog mittlerweile eine Kaltwetterfront auf. In meinen nassen Sachen wurde es durch den zunehmenden Wind empfindlich kalt und ließ mich heftig frösteln.
Einer der Retter wickelte mich sofort in zwei warme Decken ein. Der gerettete Mann, Heiner Maasgold, wurde von einem anderen Sanitäterteam ebenfalls sofort in Wärme gepackt und ärztlich versorgt.
„Warum sind eigentlich gleich zwei Rettungseinheiten anwesend?“ fragte ich überrascht. Der junge Sanitäter erklärte hilfsbereit meine Anfrage: „Ihr Notruf kam ein paar Minuten nach einem ersten Notruf herein. Da die andere Person den Unfallort nicht genau benennen konnte, schickte man das Team auf Verdacht los. Wir wussten bis dahin ja nicht, ob es sich um einen oder gar um zwei Badeunfälle handelte.
Unterwegs haben sie dann mehr zufällig die Familie dieses Mannes auf gegabelt, die das Rettungsteam ab dann sicher lotsen konnten. Ihr Notruf war durch die vielen Angaben, das GPS, und weil die Verbindung bestehen blieb, viel präziser.
Aber im Normalfall hätte Ihnen niemand diese Rettungsaktion erlaubt,“ rügte er mich vorwurfsvoll. „Wobei wir beim Zusehen zugeben mussten, wie umsichtig sie waren, und dass der Familienvater womöglich nicht überlebt hätte, wenn Sie nicht die Eigeninitiative ergriffen hätten. Danke nochmal, auch von unserer Seite.“
In der Zwischenzeit waren auch die Mädchen mit all meinen Sachen zum zweiten Rettungswagen gekommen. Ich fragte vor Kälte zitternd: „Ist es möglich, dass ich mich im Wagen rasch umziehen kann?“
Der Sanitäter nickte, half mir in den Wagen und machte hinter sich zu. Verwegen erklärte er: „Jetzt, wo Sie schon einmal hier drin sind, würde ich auch gerne einen schnellen Blick auf ihre Gesundheit werfen, Frau...“ „Reimor, Steffi Reimor ist mein Name,“ erklärte ich zuvorkommend.
Mir war das etwas unangenehm. „Eigentlich sollte ich längst wieder zurück in der Klinik sein,“ erwiderte ich ausweichend. Der Rettungssanitäter hielt kurz inne, prüfte dann trotzdem Puls und Blutdruck bei mir und notierte sich die Klinik, in der ich mich zur Zeit aufhielt, nachdem ich oberflächlich mitgeteilt hatte, weswegen ich Erholung brauchte.
„Dann erholen Sie sich noch gut, Frau Reimor,“ verabschiedete er sich. „Wenn noch etwas sein sollte, fragen Sie auf der Rettungsleitstelle einfach nach Malte. Malte, dem Fisch.“
Neugierig setzte ich nach: „Malte, der Fisch? Sind Sie das? Und warum ausgerechnet Fisch?“ Malte entgegnete lachend: „Weil ich sonst derjenige bin, der die Leute aus der Nordsee fischt. Dass Sie sich spontan in die kalte Flut gestürzt haben, verdient meine ganze Hochachtung.“ Ich wollte erneut abwinken, sah jedoch ein, dass ich dadurch nichts erreichen würde, und schmunzelte deshalb nur.
Als ich die Tür des Rettungswagens aufmachen wollte, erkannte ich gerade noch rechtzeitig, dass sich inzwischen auch die örtliche Presse wissbegierig eingefunden hatte. Schnell schloss ich die Tür wieder und blickte Malte einschmeichelnd an: „Hab ich noch etwas gut bei Ihnen, Malte, weil ich für Sie ins Wasser geeilt bin?“
Der junge Mann blickte mich fragend an, daher klärte ich die Lage auf: „Draußen habe ich die Reporter mit ihren Kameras gesehen. Mit meiner Erholung wäre es natürlich vorbei, sowie die Bilder von mir ihre Runde machen würden.“ Malte griff meinen Gedanken sofort auf und ergänzte: „Ich verstehe. Wir brauchen jemanden als Retter, und Sie brauchen ein Versteck. Oder noch besser, ein Transportmittel zurück zur Klinik, stimmt's?“ Ich nickte bestätigend: „Das wäre super, wenn Sie das für mich hinbekommen würden.“
Malte schien mich zu verstehen und organisierte sogleich den Knüller für die Presse. Die beiden hilfsbereiten Mädchen konnte er sofort als zusätzliche Heldinnen gewinnen, womit die Presse zufrieden war. Anschließend informierte er den Fahrer des Rettungswagens über die Adresse der Klinik.
Auf der Fahrt dorthin unterhielten wir uns noch etwas über die Klinik, die Gegend und die Leute. Obwohl die Gegend hier ziemlich abgeschieden war, begegnete ich fast überall nur herzlichen und aufgeschlossenen Einheimischen. Das einzige, das ich hier wirklich vermisste, das waren die Berge aus Süddeutschland. Der Blick über das Land wollte gar nicht enden, weil kein größerer Hügel die Sicht versperrte.
Nachdem wir bei der Klinik angekommen waren, bedauerten wir beide, dass die Fahrt so rasch zu Ende gegangen war. Malte fragte hoffnungsvoll: „Werden wir uns wiedersehen? Vielleicht einmal bei einer Tasse Tee oder bei einem Einkaufsbummel?“
Der hoffnungsvollen Frage konnte ich entnehmen, dass es Malte ernst meinte. Er schien mich zu mögen. Mir selber ging dies allerdings viel zu schnell. Ich wollte das lieber dem Zufall überlassen. Ich brauchte noch meinen Abstand und Freiraum.
„Wer weiß das schon. Wenn das Schicksal es will, dann werden wir uns wiedersehen,“ orakelte ich ohne zu wissen, was ich damit eigentlich andeuten wollte.
*****
Auruliyuth:
Kapitel 6 – Wattwanderung
Der Sonntag kam und mit ihm die Wattwanderung, von der ich den Jungs erzählt hatte. Ich gesellte mich zu der Watt-Wandergruppe und begrüßte auch einige dabei, die mit mir zusammen im selben Haus kurten.
Wir wurden noch einmal auf die Risiken und Gefahren hingewiesen, die es im Watt gab, und kontrollierten den festen Sitz unserer Stiefel. Erst nachdem alle soweit angezogen waren, gingen wir los.
Unterwegs lachten und scherzten wir immer wieder miteinander. Und besonders dann, wenn wieder eine von uns im weichen Schlick besonders tief eingesunken war und mit dem Fuß, selbst ohne Stiefel, fast nicht mehr heraus kam.
Das Wetter war herrlich mild und sonnig an diesem Tag. Im Gegensatz zu den anderen Tagen, an denen der Wind ständig stark geweht hatte. Allerdings brachte der Wetterbericht unbeständig und wieder kälter.
Dem jungen Nationalpark-Ranger, Olf Tidken, hörten wir aufmerksam zu, wenn er uns etwas über das Watt und die Nordsee erzählte oder zeigte. „Wir laufen hier im Watt direkt auf dem Meeresboden. Durch den Wechsel der Gezeiten von Ebbe und Flut ist es uns möglich, dieses Naturschauspiel fast hautnah zu bewundern und zu spüren.“
Eigens für eine Demonstration hatte Herr Tidken extra einen Spaten mitgebracht. Damit konnte er ein Stück des Meeresbodens ausheben und die Lebewesen darin besser zeigen. Wir beobachteten die Wattwürmer, wie sie sich ihren Weg durch den Schlamm nach oben wühlten. „Würden die Würmer im Wattboden bleiben, würden sie qualvoll ertrinken, sobald die gegrabenen Gänge mit Wasser voll laufen.“
Zwischendurch untersuchten wir Muscheln und Krabben, die es nicht zurück ins tiefe Meer oder zwischen den Schlick geschafft hatten. Als weiteres Highlight im Watt zeigte uns unser Wattführer die Flohkrebse:
„Manchmal werden sie auch springende Regenwürmer des Wattenmeeres genannt. Sie sind etwa 1 cm groß und können aber bis zu 30 cm weit springen. Wie ein Regenwurm durchwühlen sie den Meeresboden und lockern ihn dabei auf.“
Ebenso war es interessant zu sehen, wie tief die Rinnen im Watt waren, wo später das Wasser wieder zurück kommen würde, wenn die Flut einsetzte. „Diese Rinnen, die sich durch das Watt ziehen, nennt man Priele,“ erklärte Herr Tidken lehrreich.
„Und an verschiedenen Stellen im Watt gibt es hohe Eisentürme für jene, die den Weg zurück an Land nicht mehr rechtzeitig schaffen konnten. Dort sind am oberen Ende der Stange kleine Eisenplattformen angebracht worden, auf denen man die nächste Ebbe abwarten kann. Oder von wo man auf Hilfe mit einem Boot hoffen kann.“
Gegen Ende der Führung mahnte uns Tidken zur Eile. Mit einem kaum wahrnehmbaren, besorgten Blick zum Himmel zählte er uns noch einmal auf, wie wir uns verhalten mussten, sollte uns einmal die Flut überraschen. „Halten sie sich immer quer zu den Prielen und überqueren sie diese so schnell wie möglich, wenn sie merken, dass sie sich in der Zeit vertan haben. Die Priele laufen bei Flut als erstes voll und müssen unter allen Umständen überwunden werden!
Die Gezeitentabellen hängen an vielen öffentlichen Stellen aus, wie zum Beispiel der Gemeindeverwaltung, dem Verkehrsverein oder der Kurverwaltung. Und in mancher Klinik findet man diese Tabellen ebenfalls am Informationsbrett hängen.“
Weil einige von uns auch kleinere Kinder dabei hatten, waren wir nicht besonders schnell und fielen immer wieder von der Hauptgruppe zurück, welche einen anderen erfahrenen und ortskundigen Naturliebhaber in der Gruppe gefunden hatte.
Da Olf Tidken sehr gut auf die Kinder eingehen konnte und merkte, dass es den anderen Erwachsenen zu langsam ging, hatte er nach kurzem Überlegen dem Ortskundigen bereitwillig sein o.k. zum schnelleren Vorankommen gegeben. Von der restlichen Gruppe vor uns sahen wir schon bald nichts mehr, nicht einmal mehr ihre Fußspuren im nassen Schlick.
Aus einem undefinierbaren Gefühl heraus, blieb ich vorsorglich bei der Kindergruppe. 'Ein Erwachsener mehr kann sicherlich nicht schaden,' dachte ich. Und sollte ich gebraucht werden, aus welchem Grund auch immer, war ich vermutlich die einzige Rettungsschwimmerin in der Gruppe.
Zu allem Überfluss war nun auch noch ganz plötzlich Nebel aufgekommen. Obwohl der junge Ranger versuchte, sich seine Stimmung nicht anmerken zu lassen, hörte ich aus seiner Stimme deutlich, wie er versuchte die hereinbrechende Panik zu unterdrücken und sah den kalten Schweiß auf seiner Stirn. „Folgen sie mir bitte, wir sind schon ganz nah an der Küste. Ein paar Minuten noch, und wir haben es bald geschafft,“ meinte er mit vorgetäuschter Zuversicht in seiner Stimme.
Tidken wollte sich selber wohl mehr Mut zusprechen als uns fünf Erwachsenen und den sieben Kindern, die wir die extreme Gefahr nicht wirklich einschätzen konnten, in der wir längst schwebten ohne es zu ahnen.
Fast etwas zu hektisch nahm der junge Mann seinen Kompass zur Hand und stiefelte uns zielstrebig immer ein paar Meter voraus. Wobei er sich alle paar Augenblicke zu uns umdrehte, um sich zu vergewissern, dass wir ihm durch den ungewöhnlich dichten Nebel folgen konnten.
Schneller als normal füllten sich die Priele vor uns. Das Schmatzen unserer Stiefel bei jedem Schritt wurde ebenfalls immer satter. Immer schneller trugen uns unsere Füße voran. Wir waren scheinbar schon Stunden unterwegs. Der Nebel wollte und wollte nicht weichen. Und das Ufer schien auch nicht näher kommen zu wollen.
Doch bald mussten wir feststellen, dass die Kleinen unser Tempo nicht länger halten konnten. Da jeder einzelne Schritt für uns in der zähen Masse fast erkämpft werden musste, machte es auch wenig Sinn, die kleineren Kinder Huckepack zu tragen.
Die besorgten und erschöpften Mütter begannen auf den armen Parkranger einzureden und ihn zu bearbeiten etwas gegen die Flut zu unternehmen. Als ob er die Macht hätte, das Wasser zurück zu halten. Und die unbarmherzige Flut schien immer schneller zu kommen. Oder aber es gab heute eine außergewöhnliche Springflut.
Inzwischen umspülte das Wasser bereits ständig unsere Stiefel. Es begann zu allem Unglück nun auch schon zu dämmern, früher als gewöhnlich, da der dichte Nebel das Sonnenlicht zusätzlich dämpfte. Außerdem wurde die Luft um uns herum immer kälter.
Den meisten von uns war inzwischen klar, dass wir es nie rechtzeitig ans Ufer zurück schaffen würden. Einige blieben deshalb in ängstlicher Panik plötzlich wie angewurzelt stehen und waren zu keinem weiteren Schritt mehr zu bewegen.
Dabei sanken sie immer weiter ein und hatten dann Mühe sich wieder zu befreien. Die Kinder, die sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnten, schrien hysterisch und waren schnell nass bis auf die Haut.
Jeder Befreiungsversuch der tief Eingesunkenen endete damit, dass sie das Gleichgewicht verloren und der Länge nach in den mit Wasser bedeckten Schlick fielen. Sogar die Mütter reagierten genauso ängstlich, alles vergessend was sie heute gelernt hatten, und sanken bei ihren helfenden Versuchen noch tiefer ein.
Auch Tidken konnte nicht überall gleichzeitig sein. Der Wattführer bedauerte es bereits schon mehrmals, dass keine dieser lebensrettenden, eisernen Plattformen im Watt in greifbarer Nähe war. Er war doch so sehr auf die Sicherheit der Gruppe bedacht gewesen. Und diesen extremen Wetterumschwung oder die seltsame Springflut hatte auch keiner vorhersehen können.
Ich überlegte fieberhaft, wie ich sinnvoll helfen konnte. Dabei hatte ich bereits eins der älteren Kinder an meiner Hand und bewegte mich mit ihm ständig im Kreis, um ja nicht einzusinken. Mir selbst ging es einigermaßen gut.
Und eigene Kinder hatte ich selber keine. - Irgendwo her würde schon Hilfe kommen, da war ich ganz zuversichtlich. Mir fiel mein Handy ein. Rasch holte ich es hervor und musste bedauernd feststellen ... kein Netz ...
Olf, der das gesehen hatte, schüttelte traurig mit dem Kopf. „An diese Möglichkeit hatte ich auch schon gedacht. Nur leider funktioniert es nicht überall.“ Jetzt war auch ich ratlos. Für einen Moment dachte ich im Stillen an meine neuen Freunde. ‚Denen würde jetzt bestimmt etwas einfallen.’
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Auruliyuth:
Kapitel 7 – Rettung in letzter Sekunde
Bei dem Gedanken an sie bekam ich ein elektrisierendes Kribbeln und Stechen im Rücken, das ich in der augenblicklichen Situation aber nicht weiter beachtete. Das Wasser hatte meine vorrangige Aufmerksamkeit, und es kam rauschend und mit Macht näher. Dann jedoch bemerkte ich sogleich meinen Irrtum.
Es war nicht das Wasser gewesen, das da so laut rauschte. Es waren große Flügel. Sechs gewaltige Schwingen, die da auf uns zu kamen.
Das was uns da entgegen kam war so fantastisch und unwirklich, dass nicht nur ich vor Schreck und Erstaunen die Luft anhielt. Die Kleinen fingen sich am Schnellsten wieder und riefen begeistert und alle Furcht vergessend: „Drachen! ... Richtige, echte Drachen! ... Mama, Mama, Mama, ... sieh mal.“
Von diesen Fabelwesen schien weniger Bedrohung auszugehen als vom unbändigen Wasser, das mit Nachdruck immer näher kam und bereits versuchte uns mit all seiner Macht von den Füßen zu reißen.
Den kleineren Kindern ging das Wasser bereits bis zur Hüfte und riss sie ständig von den Beinen, so dass die Mütter alle Hände voll zu tun hatten.
Es waren drei dieser fantastischen Wesen, eines bizarrer als das andere. Sie verharrten vor uns flügelschlagend in der Luft. Dann setzten sie wie durch Zauberhand auf dem Wasser auf ohne einzusinken. Ihre Flügel hielten sie ausgleichend und schützend ausgebreitet über dem Wasser.
Der Kleinste der drei sah mit seinem weißen Haupt und dem gelben spitzen Schnabel aus wie ein überdimensional großer Weißkopfseeadler. 'Das muss Eagle sein', vermutete ich richtig. Er war so riesig, dass ein Erwachsener bequem auf ihm sitzen und mitfliegen konnte.
Wer genau hinsah, konnte sehen wie er uns verschmitzt zu blinzelte. Ich sah mir jedoch auf der Stelle auch die anderen beiden an. Ich ahnte sofort, wer uns da zu Hilfe geeilt war, und Argus zwinkerte mir heimlich grüßend zu.
Ich hatte zwar immer ihre Abbilder beim Chatten vor Augen gehabt, aber ich hätte ebenso niemals zu träumen gewagt, dass es sie wirklich gab.
Argus war als Drache am Imposantesten. Mit seinen gut 20 Metern Länge, den weiten Flügeln und seinen ebenmäßigen Schuppen, die irgendwie kupfern und braun schimmerten und doch ständig die Farbe zu wechseln schienen, war er geradezu das Ideal eines westlichen Drachen.
Der dritte stach nicht nur durch seine rot-goldene Farbe von den anderen ab, sondern war tatsächlich halb Phönix und halb Drache. Der ganze Körper war mit Schuppen ähnlichen Federn bedeckt, die Flügel ganz mit rot-goldenen Federn, wobei die Spitzen der Federn fast wie Gold glänzten.
'Wir kommen, um zu helfen,' klang eine sonore Stimme durch unsere Köpfe. Olf Tidken sah verdutzt von einem zum anderen, und dann zu mir und den anderen der Gruppe. Er wusste nicht, ob er sich fürchten oder lieber froh sein sollte, dass uns allen geholfen werden konnte.
Argus wusste um seinen inneren Kampf und erklärte zuvorkommend: 'Es wird kein anderer schnell genug helfen können. Und ich versichere, dass wir alle sicher ans rettende Ufer fliegen können... wenn wir uns jetzt beeilen! Je länger wir warten müssen, desto schwieriger wird das Aufsteigen werden.' Und speziell für den Ranger fügte Argus hinzu: 'Glauben Sie nicht all die Märchen, die man über uns Drachen erzählt. Ich persönlich habe noch nie einen Menschen gefressen!'
Olf Tidken schien unschlüssig zu sein, wie er sich entscheiden sollte. Ich machte es mir jedoch ziemlich einfach, indem ich scheinbar unwissend und gespielt ungläubig mit den Schultern zuckte. „Ich sehe das so, wenn sie uns wirklich hätten fressen wollen, hätten sie sich die Plauderei sparen können und wären direkt über uns hergefallen.“ Dabei zwinkerte ich Argus ebenfalls heimlich zu.
Deshalb folgerte ich aufmunternd: „Wenn das keine Fügung des Schicksals ist. Wer will als erstes einen Freiflug haben?“ Die Kinder waren sofort begeistert dabei und vergaßen indes völlig, in welcher Gefahr sie bis gerade eben noch geschwebt hatten.
Wir kamen überein, dass ein Erwachsener gemeinsam mit den Kindern mit fliegen sollte. Schnell kletterten alle Kids bei Argus auf, der bereitwillig seine Pranke als Aufstiegshilfe entgegen streckte. Er schwebte noch immer halb schwimmend über dem Wasser und müsste eigentlich aufgrund seines Gewichtes darin versinken. Aber etwas wie Magie musste ihn wohl über Wasser in der Luft verharren lassen.
Kaum dass alle Kinder mit dem Erwachsenen auf Argus Platz gefunden hatten, erhob sich der Drache in die Luft und flog geradewegs zur Küste zurück.
Unterdessen verteilte unser Watt-Experte weitere Plätze auf Eagle und auf Phönix, was aber auch einige Überredungskünste bei den ängstlichen, fast überforderten Müttern nötig machte. Olf hatte als Vorbild seine Angst vorerst überwunden. Für ihn galt es nun in erster Linie, alle aus der hereinbrechenden Flut zu retten.
Beide Freunde versuchten mir tröstende und beruhigende Gedanken zu schicken, aber ich war viel zu sehr mit mir selber beschäftigt. Das Meer stieg jetzt sehr rasch an. Und das Wasser kam mit einer unbarmherzigen Macht zurück und riss uns schon fast von den Beinen.
Irgendetwas eigenartiges ging in mir und mit mir vor. Es beunruhigte mich sehr, dass ich nicht wusste was es war, oder dass ich es nicht beeinflussen konnte. Mir war plötzlich gar nicht mehr wohl in meiner Haut, die sich für mich seltsam beengend anfühlte.
Gerade als die beiden mit den letzten zu Rettenden losflogen, war Argus bereits wieder zurück. Mit einem Blick erfasste er die neue Situation. 'Steffi...' begann er seinen Satz in Gedanken zu mir, wobei eine kleine Unsicherheit im Ton mitschwang. Er war auch sehr darauf bedacht, dass seine Gedanken nur zu mir durch drangen, jedoch nicht bei Olf landeten.
'Was passiert da gerade mit mir? Es fühlt sich unvollkommen an,' erklärte ich unwohl und nur für den Drachen hörbar. 'Steffi, Du brauchst keine Angst zu haben um das, was mit Dir gerade passiert,' versuchte Argus mich zu beruhigen. 'Wenn Du es nicht möchtest, wird es auch nicht geschehen. Aber vielleicht sollten wir an einem ruhigeren Ort weiter reden.'
Ich stimmte ihm zu, da meine Lage durch das stetig steigende kalte Meerwasser nicht besser wurde, und der Drache ebenfalls von den Wellen heftig umspült wurde. 'Du hast Recht, lass uns später reden.'
Zuvorkommend halfen er und Olf Tidken mir auf den Rücken von Argus. Wobei ich meinen Platz hinter Olf fand, welcher sich bereits jetzt schon krampfhaft vornüber gebeugt am Hals des Drachen festhielt. Seinen Kopf zu mir drehend meinte Argus noch: 'Du hast übrigens herrliche Flügel, Steffi.'
Erschrocken, und auch ein wenig geschmeichelt, drehte ich meinen Kopf um zu sehen, was er gemeint hatte. Tatsächlich sah ich hinter mir ein paar filigrane Flügel, die noch fest zusammen gefaltet waren. Durch den Nebel und das Dämmerlicht konnte ich keine Farben erkennen, aber sie schienen nicht weiß zu sein.
'Haltet euch gut fest, es geht los,' gab er uns beiden zu verstehen. Tidken verkrampfte sich noch mehr und klebte förmlich am Hals des Drachen. Ich merkte ihm an, dass er mit dieser nicht alltäglichen Situation völlig überfordert war.
Argus erhob sich flügelschlagend in die Lüfte.
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Auruliyuth:
Kapitel 8 – Gerettet
Vom langsam aufkommenden Wind getragen ließ sich Argus zur Küste gleiten. Ich überlegte, ob ich es wagen konnte meine neu gewonnenen Flügel ebenfalls auszubreiten, war mir aber nicht schlüssig. 'Was, wenn ich dadurch Argus' Flug behindern würde?'
Argus, der entweder meinen Gedankengang verfolgt hatte, oder sogar meine Gedanken lesen konnte, meinte aufmunternd: 'Versuch es nur, Steffi. Wenn Du Dich weiterhin auf mir festhältst, passiert Dir auch nichts dabei. Und meinen Flug stört es nicht.'
Zaghaft und ungewohnt öffnete ich vorsichtig und testend meine Flugfinger. Der Wind spielte fast sofort mit der zarten Membran dazwischen. Es war als wüsste ich ganz unbewusst, was ich tun musste.
Ein völlig neues Glücksgefühl überkam mich dabei. So frei hatte ich mich noch niemals in meinem ganzen Leben gefühlt. Im Gegensatz zu Tidken genoss ich den Flug mit jeder Faser meines Körpers.
Gleichzeitig machte sich jedoch auch eine Ernüchterung in mir breit. Was sollte aus meinem Alltag werden? Was würde da mit meinen Flügeln geschehen? Argus schien mich tatsächlich auch ohne Worte zu verstehen. 'Du hast nun jede Menge Fragen und noch mehr Antworten. Für jede beantwortete Frage tauchen neue Fragen auf... Lass am Besten alles sich einmal setzen. Vieles klärt sich von ganz allein.'
Und an uns beide gewandt meinte er: 'Ich bringe euch jetzt wieder zu eurer Gruppe ans Ufer, damit man euch geschlossen finden kann. Beantwortet der Polizei gegenüber, die euch bestimmt schon suchen wird, am besten gar keine Fragen die uns betreffen sollten. Das wirft nur weitere Fragen und Unverständnis auf...' Und noch einmal nur an mich gewandt meinte er geheimnisvoll: 'Wir werden uns wiedersehen, Steffi.'
Am sicheren Strand angekommen, landete Argus sanft in der Nähe unserer Gruppe. Der junge Ranger stieg mit weichen Knien ab. Sofort musste er sich am Drachen mit zitternden Knien festhalten, als er bereits festen Boden unter den Füssen hatte. Für ihn war alles so unglaublich und traumhaft, dass ihm der Flug immer noch in den Gliedern steckte.
Ich rutschte auf dem Rücken von Argus etwas nach vorn, nachdem Olf Tidken abgestiegen war. Spontan legte ich mich nach vorn und schlang meine Arme um den Hals des Drachen. Leise flüsterte ich ihm zu: „Vielen, vielen Dank, Argus! Und richte meinen Dank auch an Eagle und Phönix aus. Ihr wart unsere Rettung heute und richtig traumhaft. Was hätten wir nur ohne euch gemacht? Danke!“
Argus schnurrte leise. Die Umarmung schien ihm zu gefallen. 'Du hast uns gerufen, und wir sind gern zu Hilfe geeilt. Wobei Eagle ja meinte, dass Du selber unsere Hilfe gar nicht gebraucht hättest,' erklärte er geheimnisvoll.
Ich wollte ihm antworten und weitere Fragen stellen. Doch der Drache unterbrach meinen Gedankengang, noch bevor ich ihn aussprechen konnte. 'Ich muss leider los, … Steffi. Eure Suchtrupps nähern sich bereits.' Rasch schwang ich mein Bein über den Körper des Drachen und ließ mich auf dem Bauch an seiner Seite entlang nach unten gleiten. Die Schuppen fühlten sich angenehm warm und weich an.
Der Boden gab unter mir kurz nach, oder waren es ebenfalls meine Knie gewesen? Sofort fing ich mich wieder und winkte Argus noch hinterher, als er gleich darauf in der Nacht verschwand.
Meine Flügel waren, wie durch Zauberei, wieder weg gewesen, kaum dass Argus gelandet war. Olf hatte nichts davon zu sehen bekommen, und das war auch besser so.
Wenig später, kaum dass er weg geflogen war, kamen auch schon die Suchtrupps von zwei Seiten auf uns zu geeilt. Den davonfliegenden Drachen hatte zum Glück niemand mehr gesehen.
Die Gruppe, die voraus gelaufen war, hatte uns vermisst und zu Recht vermutet, dass wir noch nicht aus dem Watt zurück gekehrt waren.
Bei den Suchtrupps lösten sich jetzt ein paar Sanitäter aus der Menge. Einer davon kam sehr zielstrebig auf mich zu. „Hallo Frau Reimor,“ begann er schon von weitem. „Wollten wir schon wieder einmal mit der Flut um die Wette schwimmen?“ fragte er keck.
„Malte!“ rief ich erleichtert. „Sie trifft man aber auch immer wieder am Strand,“ erwiderte ich ebenso schlagfertig. Und wieder einmal war er es, der eine warme Decke um mich legte. Wobei ich noch immer die angenehme, innere Wärme von Argus spürte.
Der Drache hatte so eine Wärme ausgestrahlt, dass mir erst jetzt bewusst wurde, wie kalt und klamm es inzwischen geworden war.
Während Malte so dicht neben mir stand, fragte er leise und völlig unerwartet: „Und wie war es, auf einem Drachen zu fliegen?“ Erschrocken drehte ich mich blitzartig zu ihm um und flüsterte im Affekt: „Woher weißt Du...“ Doch Malte, der Fisch, hielt beschwörend den Zeigefinger vor seinen Mund: „Pssst... Wir wollen doch keine schlafenden Hunde wecken. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.“
Ich war mir hingegen völlig unsicher, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Wie weit konnte ich Malte vertrauen? In die wärmende Decke gehüllt wartete ich mit der Gruppe zusammen ab, was die Behörden noch von uns wollten. Offensichtlich war es irgend jemandem doch wichtig, dass wir in die Wärme kamen und medizinisch betreut wurden.
Unterwegs zur Klinik wurden wir deshalb weiter mit vielen Fragen bombardiert. Doch keiner außer mir schien sich überhaupt daran zu erinnern, wie wir ans rettende Ufer gelangt waren. Aber da mir niemand gezielte Fragen stellen wollte, schwieg ich die meiste Zeit der Fahrt über.
Die Kinder berichteten alle ganz aufgedreht und durcheinander, was sie alles gesehen haben wollten. „Ein bunter Vogel, riesengroß, und ein gigantischer Drache, so hoch wie ein Haus, aber ganz lieb war der... wir sind durch die Luft geflogen... nein, stimmt ja gar nicht!... Er hat uns gepackt und aus dem Wasser gezogen... Ich bin hoch über den Wolken geschwebt... ein megagroßer Adler mit weißem Kopf und funkelnden Augen war dabei... der bunte Vogel hat ausgesehen als würde er brennen, so hell war der...“
Fast konnte man meinen, die blühende Fantasie ging mit den Kindern durch. Was auch ein Grund war, weshalb man ihren verworrenen und fantastischen Geschichten kaum Gehör schenkte.
In der Klinik mussten wir alle gemeinsam auf die Krankenstation, damit die Schwester gleich eingreifen konnte, sollte sich über Nacht doch noch bei dem einen oder anderen Fieber wegen Unterkühlung oder ähnliches melden.
*****
Auruliyuth:
Kapitel 9 – Jens Mattens
Am anderen Morgen wurden wir mit einem ausgiebigen Frühstück im Bett geweckt. Und noch jemand Anderer wartete geduldig darauf, dass ich wach wurde. Ich konnte nicht sagen, ob mich der Kaffeeduft oder seine Anwesenheit geweckt hatte.
Neben meinem Bett stand Jens Mattens, der Physiotherapeut, und blickte aus dem Fenster auf das Meer hinaus. Als er bemerkte, dass ich aufgewacht war, drehte er sich etwas besorgt, aber mit einem charmanten Lächeln, zu mir um. „Ich hatte ja versprochen, wieder zu kommen.“
Verständnislos blickte ich ihn an. Irgendetwas an ihm kam mir merkwürdig vertraut vor, doch näher konnte ich mein Gefühl noch nicht beschreiben. Bevor das Schweigen jedoch peinliche Züge annehmen konnte, begann ich: „Danke, dass ... Sie gekommen sind, Herr Mattens. Ich wollte mich noch persönlich für mein dummes Weglaufen entschuldigen. Ich war so schrecklich durcheinander...“
Jetzt war es der Physiotherapeut, der überrascht und mit einem Fragezeichen im Gesicht zu mir sah. Dann begann er langsam zu verstehen. Er überlegte kurz, wie er am besten beginnen sollte. Zögernd begann er mir zu erklären: „Du scheinst auch jetzt noch etwas durcheinander zu sein. Aber das ist verständlich... Albino.“
Meine spontane Reaktion auf seine ersten Worte war, wie kam dieser Angestellte dazu, mich zu duzen?! Zugegeben, er sah gut aus und jede Frau in der Klinik schwärmte für ihn. Und jetzt stand er ausgerechnet an meinem Bett.
Dann sickerten auch seine restlichen Worte bei mir durch, und nun war ich es, die verlegen und stark errötend auf meine Bettdecke starrte. Zaghaft und eher fragend setzte ich an: „Argus?“ „Ja, Steffi. Ich bin Argus. Ich wusste nicht, wie ich es Dir sonst hätte schonender beibringen können.“
Er war ein paar Schritte näher an mein Bett herangetreten, aber dann war er abwartend und vorsichtig stehen geblieben, wie um mir nicht unaufgefordert zu nahe zu kommen.
„Ich war in der Physio wegen Deiner Flügel damals genauso überrascht. Lange Zeit dachten wir, die Einzigen zu sein. Die Letzten unserer Art. Aber mit Dir steigt unsere Hoffnung wieder, dass es noch mehr von uns gibt,“ gestand er mir ein.
Ein wohliges Glücksgefühl durchströmte mich und gleichzeitig setzte auch ein elektrisierendes Kribbeln am ganzen Körper ein. Argus, der die Anzeichen für eine Verwandlung an mir sofort erkannte, bremste mich sanft, indem er mit einer Geste über meinen Rücken strich. „Nicht hier, bitte. Das ist zu gefährlich. Lass uns heute Abend am Strand wieder zusammen kommen, Steffi. Dann können wir über alles reden.“
Obwohl mir das Warten bis zum Abend sehr schwer fiel, hatte ich dennoch etwas, worauf ich mich unbändig freuen konnte. Jens Mattens, der beliebteste Therapeut der Klinik, war gekommen, um mich zu besuchen. Er schien etwas für mich zu empfinden. Und ich musste geschmeichelt feststellen, dass es mir mit ihm genauso ging.
Aber dann war da auch noch Malte, dem ich inzwischen bereits zweimal begegnet war. Und jedes mal fühlte ich mich in seiner Gegenwart geborgen. Das war verwirrend für mich. Ich wollte mir darüber erst Klarheit verschaffen, bevor mich die Gefühle überwältigen würden.
Ich hatte jetzt erst meine ganze Familie auf einen Schlag verloren. Deshalb war ich mir nicht sicher, ob ich schon wieder bereit war überhaupt jemanden so nah für eine Beziehung an mich heran zu lassen.
*****
Als ich am Abend zum vereinbarten Treffpunkt an den Strand kam und Jens schon von weitem dort stehen sah, freute ich mich über alle Maßen auf unser Treffen. Das heißt, eben noch war da Jens gestanden, und im nächsten Augenblick stand da der stattliche Drache Argus wieder.
Mein Herz schlug schneller. Ich freute mich, dass ich Argus so schnell wiedersah. Meine Füße wollten mir einen Moment lang nicht mehr folgen. Ich stolperte, so glaubte ich, und nahm instinktiv meine Hände nach vorn um den Sturz abzufangen.
Eigentlich müsste ich mich jetzt wieder aufrichten. Aber auf allen Vieren zu laufen erschien mir das natürlichste der ganzen Welt zu sein. Verdutzt blieb ich stehen, auf allen vier Pranken. 'Pranken?! Was zum … war da gerade mit mir passiert?!' Entsetzt blickte ich an mir hinunter. 'Ein Drache?! Wieso war ich plötzlich ebenfalls ein Drache?!'
Jens hatte mir zugesehen und sich mit mir gefreut als ich mich ganz von selbst in einen Drachen verwandelt hatte. Zunächst erleichtert stellte er fest, dass er mir dies nicht mehr beibringen musste. Jedoch verschwand sein Lächeln mit zunehmender Besorgnis, als er meinen Schock wahr nahm.
Ich hatte mich gar nicht verwandeln wollen. Er hatte es bei mir durch seine pure Anwesenheit ausgelöst. Jens flog die letzten paar Meter eilig auf mich zu, um mich zu trösten. 'Steffi... Du musst keine Angst haben. Lass es einfach geschehen und vertraue mir.' Er versuchte all seine Zuversicht auszustrahlen.
Erschrocken hatte er festgestellt, dass mein wahrer Drachenname entweder sehr tief vergraben sein musste, oder dass er gar nicht mehr vorhanden war. Beide Optionen wollte er sich nicht weiter ausmalen.
Auch Kevin und Mark, die bei dem Treffen dabei sein wollten, versuchten ihre Besorgnis zu verbergen. 'Was, wenn Steffi Jens in der Klinik über den Weg laufen würde, und sich plötzlich ihre Flügel oder mehr zeigen würde?' unterhielten sie sich telepathisch.
Jens schüttelte kaum merklich den Kopf und gab den beiden auf die gleiche Weise zu verstehen: „Ich werde das zu verhindern wissen. Schlimmstenfalls darf ich Steffi in der Klinik nicht mehr sehen!“
Das allerdings würde ihn am Meisten schmerzen. Aber wenn es das Opfer wert war, musste es so sein.
Ich kämpfte unterdessen innerlich mit mir selbst. Ich verstand nicht, was da mit mir gerade passiert war. Und das ganz ohne mein eigenes dazu tun. 'Ein Drache! Ich selber war zu einem richtigen, echten Drachen geworden!'
Ein Teil eines langen Namens tauchte immer wieder aus meinem Innersten auf und verschwand aber wieder, bevor ich etwas davon richtig erfassen konnte... Liro... Lirush... Lymurash...
Ich hatte Angst. Und ich war froh, dass Jens und seine Freunde hier waren. Niemals wäre mir der Gedanke gekommen, dass Jens Mattens der Auslöser meiner Verwandlung sein könnte. Von ihm und seinen Freunden wusste ich, dass sie sich auch wieder in Menschen verwandeln konnten.
Voller Zuversicht lächelte ich und fragte hoffnungsvoll: „Und wie kann ich mich wieder zurück verwandeln?“ Tief in meinem Innersten wollte ich das unbedingt, und Jens spürte das auch.
„Du musst nur an Deinen Namen und Deine Gestalt denken. So machen wir das auch,“ fügte er erklärend hinzu. Dass ich meinen Drachennamen nicht kannte, daran wollte der Drache gar nicht denken.
Die Drachin in mir war mit Feuereifer dabei. Ich dachte ganz intensiv an meinen Namen „Steffi“. Zunächst tat sich noch nichts, aber dann spürte ich die körperliche Veränderung an mir.
Die Jungs freuten sich mit mir und spornten mich an. Schließlich fiel ich Jens überglücklich in seine Arme. „Ich habe es tatsächlich geschafft!“ Und er lobte mich: „Ja Steffi, Du hast es gleich beim ersten Mal geschafft.“ Beide hatten wir uns wieder in Menschen verwandelt.
Ich war erschöpft und spürte deutlich die körperliche Anstrengung. „Du bist jetzt sicher müde und erschöpft, Steffi,“ folgerte Kevin richtig. „Das ist am Anfang völlig normal. Nach ein paar Mal üben fällt es Dir leichter und kostet auch nicht mehr so viel Kraft und Energie.“
Jens hielt mich weiterhin fest in seinen Armen. Er spendete mir dabei neue Energie. „Wenn Du möchtest, können wir noch ein Stück spazieren gehen. Ich bringe Dich dann später zurück in die Klinik. Leider darf man uns dort nicht zusammen sehen, außer wir haben eine Therapiestunde miteinander.“
Ich war noch ganz überwältigt von den gerade erlebten Ereignissen, so dass ich nur ein dankbares Nicken zustande brachte. Dass wir uns nur selten sehen würden, damit konnte ich mich abfinden.
Ich fand Jens mehr als zuvorkommend. Und ich fühlte mich bereits jetzt immer mehr zu ihm hingezogen. Zudem hatte ich den Eindruck, dass er mich ebenfalls mochte.
Trotzdem schlichen sich leise Zweifel bei mir ein: 'War ich schon wieder bereit für eine feste Beziehung oder mehr, mit allem was dazu gehörte? Und was war mit Malte? Auch ihn mochte ich sehr.'
Ich hatte noch so viele eigene Probleme, dass ich gar nicht vor hatte mich bereits wieder fest zu binden. Und dennoch taten mir die Stunden gut, wenn ich von meinen Gedanken um meine verunglückte Familie abgelenkt wurde, sei es durch Jens, Malte oder einen der anderen Freunde.
In jeder freien Minute halfen mir die drei mich auf mein kommendes Leben, sowohl als Drache wie auch als Mensch, vorzubereiten. Manches, das mir selber wichtig erschien, schoben sie jedoch beiseite mit den Argumenten: zu wenig Zeit, oder noch zu schwierig.
Gerne hätte ich gewusst was ich tun musste, um mich bewusst in Gedanken mit anderen auszutauschen. Aber das, so sagten alle drei, wäre nicht so dringend wie das Fliegen oder Landen, oder sich als Drache im Flug unsichtbar zu machen.
Noch wusste keiner von uns, wie es nach meiner Reha mit mir weiter gehen würde. Ich hatte keine großen Erwartungen gehabt als ich hier an die Nordsee gekommen war. Mein Wunsch war es, dass ich Zeit zum Trauern finden würde oder alles zusammen zu verdrängen lernte. Niemals hätte ich erwartet, hier neue Freunde zu treffen. Und sogar mehr als nur einen Freund.
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