Einer neuen Zukunft entgegen (2) – Schwenninger Moos

<< < (3/6) > >>

Auruliyuth:
Ourin


Am anderen Morgen hatte das Wetter umgeschlagen. Die Unwetterwarnungen für dieses Gebiet überschlugen sich. Zuerst Eisregen mit Blitzeiswarnung, der dann in Schnee übergehen würde. Anka war froh, dass sie nirgends mehr hin musste. Hier in der Klinik wurde bestens für sie gesorgt. Noch gut eine Woche, dann war ihre Reha ebenfalls zu Ende, ebenso wie die von Peter.

Sie verbrachten jede freie Minute miteinander. Und oft war auch Steffi mit dabei. Die Ärmste durfte ihren Jens nur heimlich treffen. Doch dieser fand genug Möglichkeiten seine Steffi zu sehen. Er ließ sich zum freiwilligen Dienst im Schwimmbad eintragen, führte Wanderungen und Spaziergänge oder organisierte kleine Wettbewerbe in der Turnhalle. Wer es nicht wusste, oder kein guter Beobachter war, hätte die beiden nie fest zusammen gehörend vermutet. Jens wurde zudem ständig auch von anderen Frauen umschwärmt, und er behandelte alle gleich höflich.
Heute spielte das Wetter wirklich verrückt. Mal schneite es, dann stürmte es orkanartig und wirbelte den ganzen Schnee wieder auf. Und dann schien für kurze Zeit die Sonne, nur um dann von neuem wieder zu schneien. So ging es den ganzen Tag und die darauf folgende Nacht.

In dieser Nacht hatte Steffi einen schrecklichen Albtraum. Sie flog durch diesen Sturm aus Kälte und Eis, wurde hin und her geworfen und fühlte sich völlig klein, allein und hilflos. Sie wusste nur, dass sie ihr Ziel um jeden Preis erreichen musste. Es kostete sie ihre ganze Kraft und Energie. Aber am Ende hatte sie es fast geschafft. Nur noch einmal ganz kurz ausruhen und schlafen...

„Steffi... Steffi... wach bitte auf, Liebes.“ Jens stand besorgt in ihrem Zimmer an ihrem Bett.
Noch halb träumend musste sich Steffi zunächst orientieren wo sie war. Ihr war kalt und sie fror. Jens schaute sie besorgt an, als er fühlte wie ausgekühlt sie war. „Steffi, Du bist ganz kalt. Was ist passiert?“ Steffi setzte sich verschlafen auf und sah ihren Lebensgefährten irritiert an. So gesehen war es noch mitten in der Nacht, und er stand in ihrem Zimmer, das sie eigentlich abgeschlossen hatte. Alles schlief noch seelenruhig. „Ich hatte einen fürchterlichen Albtraum. Ich bin durch einen fürchterlich heftigen Schneesturm geflogen und hab mich völlig entkräftet irgendwo hingelegt und bin eingeschlafen.“ Jens nahm seine Partnerin in den Arm, tröstete und wärmte sie.
„Das war kein Traum, Liebste. Du hattest eine Vision. Und Anka vermutlich auch, nur viel früher. Sie ist nämlich weg.“  „Wie 'weg'? Du meinst, sie weiß was das war und ist es suchen gegangen?“ Steffi war auf einen Schlag hellwach. „Wohin könnte sie sein? Wir sind doch quasi eingeschneit.“
Jens zuckte ratlos mit den Schultern. „Der Schnee hat bereits alle Spuren wieder verwischt. Ich habe ihr Fehlen nur bemerkt, als sie unseren energetischen Schutz durchbrochen hat. Seitdem kann ich sie nicht mehr aufspüren. Sagen Dir Deine Träume mehr?“ Steffi überlegte angestrengt. „Als ich im Traum geflogen bin, sah alles viel größer aus...“
Jens überlegte. „Schließe bitte Deine Augen, Steffi. Ich führe Dich noch einmal dorthin, wo Du gerade warst.“ Steffi reichte ihre Hände, die Jens mit seinen sanft umfasste. Dann schloss sie entspannt ihre Augen und ließ sich von Jens zurück in ihren Traum führen. 'Der Sturm hat aufgehört und es fällt auch kein Schnee mehr. Du siehst Dich um, ob Du es erkennst, um Dich zurecht zu finden.'
Steffi sah sich um und erkannte nun, dass sie gar nicht so weit weg, im Schwenninger Moos, gelandet war. Sie sah aber noch mehr. 'Anka! Ich kann Anka sehen. Sie steht da und schaut sich ebenfalls um. - Sie sucht dasselbe wie ich. Du hast recht, es war kein Traum. Ich weiß nun, wo das ist.'
Steffi wachte auf und sah nun auch besorgt aus. „Sie ist nicht warm genug angezogen für diese Temperaturen. Ich zieh mich rasch an und hol etwas für sie, damit sie nicht erfriert.“ Steffi war ganz in ihrer Helferrolle. „Wo treffen wir uns? Du kommst doch mit, oder?“ Jens schüttelte den Kopf. „Nein, Liebes. Ich komme nicht mit. Du fliegst allein und holst Anka und was auch immer sie gefunden hat. Ich werde hier alles organisieren bis ihr zurück seid. Das schaffst Du auch allein.“
Steffi stand inzwischen fertig angezogen da. Jens gab ihr zwei warme Decken und einen langen Gurt in einer Stofftasche. „Die kannst Du mit Deinen Zähnen halten, solange Du zu ihr fliegst. Wenn ihr Hilfe braucht, sagt Bescheid. Ich wecke inzwischen die anderen drei und bereite das Frühstück vor. - Willst Du von der Terrasse aus starten oder von der Dachkammer aus fliegen?“ Steffi brauchte nicht lange zum Überlegen. „Würdest Du mir einen Sprung vom Dach schon zumuten?“ fragte sie ihn neckend und grinste dabei. „Ich nehme lieber den Weg über den Saal.“

Inzwischen waren sie beim großen Saal angekommen. „Gut, dann treffen wir uns auch hier wieder alle.“ Jens umarmte seine Steffi und küsste sie innig. Dann hielt er sie noch einen Moment fest und schaute sie liebevoll an. „Meine Liebste, Steffi... habe ich Dir heute eigentlich schon gesagt, dass ich Dich liebe?“ Steffi fühlte ein Kribbeln im Bauch. Ihr fiel es plötzlich schwer einfach so zu gehen. Sie fühlte die gleiche unsagbar große Liebe auch für Jens. Mit einem verführerischen Augenaufschlag und einem zärtlichen Kuss bedankte sie sich für die Liebesbezeugung.
Als sie ihn doch los lassen musste, bekannte Steffi: „Ich liebe Dich ebenso, mein liebster Jens... Aber ich kann es nicht oft genug hören,“ lachte sie.  „Können wir genau da nachher weiter machen? Ich beeile mich auch, damit die beiden nicht erfrieren.“ Steffi war mit Jens an der Tür zur Terrasse angekommen.
Jetzt lief sie los, und verwandelte sich gleich damit die Zeit schneller vorbei ging bis sie sich wiedersehen würden. Jens lief zurück und bereitete alles nötige vor.

Albino flog knapp über den Baumwipfeln dahin. Eigentlich hätte an ihrer Stelle sinnvollerweise eher Silberflügel fliegen sollen, dachte sie. Aber die beiden hatten noch keine gemeinsame Flugerfahrung. Dass Peter seine Anka im Moos gefunden hätte, stellte Albino gar nicht erst in Frage. Sie fragte sich vielmehr, was für ein Wesen das sein mochte, dass sie davon sogar Albträume bekommen konnte.
Aber da Anka wohl nicht ohne guten Grund allein los gelaufen war, musste es ihr sehr wichtig sein. Wichtiger als Peter? 'Albino, jetzt mal halblang! Nichts ist wichtiger als der Partner, der einem Halt gibt und immer da ist, wenn man ihn braucht.'
Dieser Gedanke an ihren Partner beschäftigte sie dann doch so sehr, dass sie schneller im Moos ankam als sie gerechnet hatte.
Um nicht etwaige Frühaufsteher oder Jogger zu erschrecken, die trotz des Wetters unterwegs sein könnten, verwandelte sich Albino wieder in Steffi. Sie wusste ungefähr in welche Richtung sie musste.
Vorsichtig tastete sie sich in Gedanken durch das Moos, darauf bedacht Anka zu finden und niemanden zu wecken, der nicht geweckt werden wollte. Steffi zog sich mental gleich wieder zurück, als sie Anka ausfindig gemacht hatte. Das Wesen bei Anka war wach, jedoch ging nichts bedrohliches von ihm aus. Steffi eilte den beiden entgegen.

Anka hatte ebenfalls einen sehr beunruhigenden Traum gehabt. Jemand, der sehr verängstigt und verzweifelt war, rief ständig ihren Namen, und sie konnte nicht feststellen woher die Stimme kam. Rasch hatte sie sich daher angezogen und war durch die Nacht und den Neuschnee der Stimme entgegen gelaufen. Noch bevor sie die Stimme im Moos ausfindig machen konnte, war sie immer leiser geworden und schließlich verstummt. Entsetzt war Anka den letzten Rest des Weges fast geflogen. Sie hatte noch nicht einmal bemerkt, dass sie dazu ihre Flügel gebraucht hatte. Hinter ihr waren keine Spuren im Schnee zu erkennen.
Als sie das Wesen nach einigem Suchen endlich fand, fühlte es sich kalt und leblos an. Anka war überrascht und auch entsetzt. Das Wesen konnte nur Ourin sein. Genau so hatte er sich als Drache beschrieben. 'So groß wie eine Taube, aber schneller und wendiger als diese. Und auf gar keinen Fall eine Feuerechse. Ob wir Großen zu blöd seien uns auch kleinere Wesen vorzustellen!' so hatte Ourin geschrieben.
Anka wurde sich jetzt erst bewusst, dass dies kein Traum war. Sie war traumwandelnd aus der Klinik, durch die Gegend, bis hierher gelaufen.
Sie fror inzwischen entsetzlich und machte sich selber Vorwürfe, warum sie sich nicht wärmer angezogen hatte. Trotzdem nahm sie den kleinen Ourin zu sich in ihren halb geöffneten Mantel.
Durch die Wärme von Anka wachte der kleine Drache auf. Allerdings war er noch viel zu erschöpft um sich zu regen. Er stellte nur befriedigt fest, dass er sein Ziel erreicht hatte. 'Genau zu Dir wollte ich.'

Anka war sich nicht sicher, ob das gerade Ourin gedacht hatte oder ob sie schon fremde Stimmen hörte. Zähne klappernd zog sie den viel zu dünnen Mantel enger um sich und wollte sich gerade auf den Rückweg machen. Durch ihr Zähne klappern hörte sie sehr spät die sich schnell nähernden Schritte. 'Bei diesem Wetter? Um diese Zeit? Da musste jemand mindestens so verrückt sein wie ich,' dachte Anka.
„Stimmt!“ wurde ihr lachend von Steffi geantwortet. Anka fiel ein Stein vom Herzen. „Steffi! Dich schickt der Himmel!“
Steffi umarmte die frierende Anka und bemerkte dabei auch das kleine Bündel 'Etwas' an ihrer Brust. „Nein, nicht der Himmel, Jens hat mich aus meinen Träumen gerissen und hierher geschickt.“
Währenddessen hatte sie rasch die beiden Decken ausgepackt und Anka in eine davon gewickelt. Den kleinen Drachen hatte sie dabei unter seinem lauten Protest aus Anka's Mantel geholt und wickelte ihn stramm wie ein kleines Baby in die zweite Decke. „Und Du bist das kleine Ungeheuer, das mir letzte Nacht Albträume beschert hat?“ lachte Steffi dabei.
'Bin kein Unggggeheuer! - ...heiße Ourin.... bbbbin ein Drrrrrraaaaaache!' gab Ourin beleidigt protestierend, dabei mit den Zähnen klappernd und strampelnd von sich. Gerade noch in Steffis Armen bequem liegend, zappelte Ourin so heftig, dass er sich wieder aus der Decke befreite und zu Boden purzelte.
Da lag er nun und quietschte auf seine Art: „Iiiiiiiiiiigiiiiiiit ist ddddas kkkkkkahaaaaalt!“
Steffi reichte es allmählich. Klein hin oder jung her, diesem Drachen hatte noch niemand Manieren beigebracht, so wie es aussah.
Anka stand immer noch bibbernd da. Beide wollten sie zurück zum Frühstück und in die Wärme.
Ourin fing die Bilder von molliger Wärme und üppigem Frühstück ab und sprang plötzlich ausgelassen umher. „Frühstück, Frühstück, Frühstück, …“ rief er immer wieder, bis Steffi der Kragen platzte. „Ich hab ja schon vieles erlebt und einiges mitgemacht... Aber das hier... Junge, Junge... das hier schlägt dem Fass den Boden raus. Manieren kennst Du wohl gar nicht, oder?“ Ein promptes und heftig Kopf schüttelndes 'Nö!' kam als Antwort.

Und dann verriet sich der Kleine doch in seinen ungewollten Gedanken. Anka erschrak: „Was?! Du bist aus einem Heim ausgebüchst?! Ist dort denn niemand, den Du gerne magst? Was ist mit Deinen Eltern, die Dir angeblich immer alles erlauben?“
Ourin krähte begeistert: „Niemand mag mich dort. Niemand kennt mich dort. Und Niemand vermisst mich dort. Keiner kommt mit mir klar!“
Bevor Anka reden konnte, war Steffi schneller. „Und was erwartest Du jetzt von uns?“
„Ihr müsst mir jetzt Frühstück geben! Ich bin ein Drache! Ich verbrenn' sonst alles! Muuuuaaaaah!“
Steffi holte tief Luft und drehte sich, um sich zeigend, im Kreis. „Was willst Du verbrennen? Hier sieht schon alles wie verbrannt aus oder es ist so nass und verrottet, dass nichts mehr Feuer fangen kann!“
Anka kam Steffi zuvor, die noch mehr hatte sagen wollen. „Du kannst doch nicht einfach weglaufen, Ourin! … oder weg fliegen... Und dass Dich niemand mag, kann ich nicht verstehen. Ganz bestimmt sogar vermissen sie Dich bereits. - Und wer länger vermisst wird, wird von der Polizei gesucht!...“
Ourin wurde plötzlich ganz Kleinlaut. „Die Polizei?...“ Doch dann drehte er schon wieder auf. „Die findet mich nie! Die suchen doch einen kleinen Jungen und keinen Drachen! Muuuuaaaaaah...“
„So, Du besser wissender Drache,“ Steffi ging in die Offensive. Zu verlieren hatten sie nichts. Und sie hatte ihren Trumpf noch gar nicht ausgespielt. „Wie stellst Du Dir das jetzt vor? Wie sollen wir hier wieder weg kommen?“
Ourin zeigte auf Anka. „Na, die da bringt uns weg. Sie ist doch auch ein Drache.“

Autsch, das hatte gesessen. Anka sah jämmerlich aus als sie das hörte. Sie konnte ihre Tränen kaum zurück halten, weil er gerade ihren größten Wunsch laut ausgesprochen hatte.
Seit sie Peter kennen gelernt hatte und gesehen hatte, wie er sich in einen Drachen verwandelte, wollte Anka nichts sehnlicher als ebenfalls ein Drache sein, um mit ihm gemeinsam durch die Lüfte zu gleiten. Und doch hatte sie nach gestern Abend zu viel Angst davor.
„Ourin... ich hatte niemals erwähnt, dass ich ein richtiger Drache wäre. Du kannst Dir nicht etwas zusammen reimen, das so nicht richtig ist!“ Jetzt hatte Steffi zwei Häufchen Elend. Auch Ourin war kurz vorm Weinen.
„Ourin? Ich mache Dir einen Vorschlag. Den mache ich aber nur ein einziges Mal. Wenn Du brav mitmachst, regeln wir das mit Deinem Heim und der Polizei gemeinsam. Wenn Du dagegen arbeitest und es nach Deinem Kopf gehen soll, dann sitzt Du nach dem Frühstück bei der Polizei und wartest dort auf deine Betreuer. Aber... ich werde ihnen dann Dein kleines Geheimnis verraten.“

Steffi brauchte nicht auf seine Reaktion zu warten. Beleidigt und wütend flatterte er durch die Luft. Sie ergänzte noch: „Ach ja, wenn Du jetzt weg fliegst, hast Du auch verloren. Wie entscheidest Du Dich?“ Ohne ein Wort zu verlieren und ohne an die Konsequenzen zu denken – einfach so, wie er seine Probleme immer löste – flatterte Ourin auf und wollte sich gerade durch die Luft aus dem Staub machen.
Hämisch schnaubend drehte er sich aus sicherer Entfernung, wie er meinte, um, weil er die wütenden Reaktionen sehen wollte, die er sonst immer provozierte. Stattdessen musste er voller Schrecken sehen, wie sich ganz unerwartet die – aus seiner Sicht – falsche Person in einen Drachen verwandelte.
Anstatt zu fliehen, blieb er geschockt in der Luft stehen und dachte an keinerlei Gegenwehr. Wenn er ehrlich war, hatte er bisher noch nie einen anderen Drachen, außer sich selbst, gesehen. Und irgendwie beeindruckte ihn das sehr.

~~~ ^v~ ~~~ ^v~ ~~~ ^v~ ~~~

Auruliyuth:
Christofer


Steffi duckte sich, wurde zu Albino und sprang mit einem gewaltigen Satz in die Luft und genau auf Ourin zu. Anstatt ihn normal mit ihren Pranken zu packen, behandelte sie ihn wie ein Beutetier und fing ihn mit ihrem Maul ein, ohne ihn jedoch ernsthaft zu verletzen. Dort baumelte er überrascht und wehrlos, bis Anka ihn aus Albinos Maul befreite und fest hielt.
Albino fragte Ourin drohend: 'Willst Du lieber als Minidrache in meinem Maul mit fliegen oder als artiger kleiner Junge mit Anka auf meinem Rücken?' Ourin hatte noch immer nicht begriffen, dass sein Spiel verloren war. „Dann bist Du Anka's Reittier, Drache?“
Albino grollte unwirsch. 'Du kannst auch als Knirps zwischen meinen Zähnen transportiert werden! Etwas mehr Respekt, bitte schön!'
Jetzt hatte Ourin endlich begriffen. 'Entschuldigung...' kam ganz Kleinlaut aus seiner Richtung.

Dann verwandelte er sich in einen kleinen hübschen, aber schmächtigen Jungen und blieb brav neben Anka stehen. Anka sah sich den unterernährt wirkenden Jungen genauer an. Er hatte ihr einmal geschrieben, wie abgrundtief er seine menschliche Gestalt hasste.
„Das stimmt ja auch!“ kam es aus seiner Richtung protestierend zurück. Für seine 14 Jahre war er viel zu klein und außerordentlich dünn, dass man fast Angst haben musste, dass der Wind ihn davon tragen würde.
Anka fiel noch etwas wesentliches ein. „Sag mal, Ourin. Wie ist eigentlich Dein richtiger Name? Und wie alt bist du wirklich?“
Fast wäre sein alter Trotz wieder zum Vorschein gekommen, doch er konnte sich gerade noch zurück halten. „Christofer... Christofer Dree... und ich bin … schon elf Jahre.“
„Christofer...“ Anka sprach seinen Namen wohlklingend, aber vorsichtig aus. Dabei kletterte sie bereits auf Albino und setzte sich so hin, dass der Junge vor ihr Platz haben würde, „... kommst Du allein rauf oder brauchst Du Hilfe?“
Flink wie ein Wiesel sprang Christofer in drei Sätzen nach oben und setzte sich bequem und wie selbstverständlich vor Anka. Albino wartete nicht länger, sondern flog gleich los, sowie sie merkte, dass beide gut saßen. Denn durch Anka hatte auch sie schnell ein Gefühl für einen guten Sitz ermitteln können.

Anka überlegte schon die ganze Zeit, was diesen Jungen dazu veranlasst hatte, einfach abzuhauen. Das musste er doch lange und gründlich geplant haben. Auch würde sie interessieren, warum sich Christofer im Internet älter machte als er war. 'Das würde mich auch brennend interessieren,' gab Albino zu verstehen. 'Elf oder vierzehn, das sind vor dem Gesetz ganz unterschiedliche Richtlinien.'
Christofer schien den Flug, an Anka gelehnt, zu genießen. Sowie er jedoch mit dieser Frage konfrontiert wurde, versteifte er sich und rückte von Anka ab.
Zunächst wollte er gar nicht antworten. Er wollte doch nur diesen Flug auskosten. Das folgende, für ihn bedrückende Schweigen quälte ihn mehr als er zugegeben hätte.
Deshalb gab er halbwegs bereitwillig Auskunft: 'Mit elf kann ich mich noch nicht überall anmelden. Und dann dachte ich, wenn schon älter, dann gleich richtig. - Und man wird auch ganz anders behandelt. Mit elf nimmt Dich doch niemand ernst!'  
'Da muss ich Dir allerdings Recht geben, junger Mann,' lenkte Albino ein. Sie setzte auch bereits zur Landung auf der Terrasse an.

Die drei wurden von den Männern schon erwartet. Christofer sprang mit einem Satz nach unten und wartete ungeduldig bis Anka endlich neben ihm stand. Beide froren noch immer entsetzlich.
Jens geduldete sich ebenfalls bis er Steffi wieder vor sich hatte.
Peter hatte schon eine neue warme Decke so um Anka gelegt, dass die Arme frei blieben.
Sie umarmte ihn dankbar und gab ihm einen Kuss. Dann reichte er ihr noch einen flauschigen Morgenmantel, den sie zusammen mit der Decke mit einem Gürtel fixierte. Sie spürte die Wärme bereits, die langsam in ihre Knochen zurück kehrte.
Mark hatte sich um den zunächst laut protestierenden Jungen gekümmert und ebenfalls in eine kuschelige Decke gewickelt.
Steffi wurde von Jens ebenso fürsorglich in eine Decke gehüllt. Bei dem Protest von Christofer reichte es bereits, wenn sie ihn streng ansah, damit er sofort aufhörte, weil er ihre Konsequenzen fürchtete.
Kevin prüfte als Arzt der Gruppe bei allen dreien vorsorglich die Temperatur. Bei Christofer wurde er sehr ernst. „Junger Mann, wie heißt Du denn? - Mich kannst Du Kevin nennen.“ Ein prüfender Blick, zuerst zu Anka, dann zu Steffi. Dann erst antwortete er: „Ich heiße Chris.... Chris-... hatschiiiii, Christofer.... 'tschuldigung.“ Fragend sah er in die Runde und zu den anderen drei Männern. Rasch nannte jeder seinen Namen.
Der Duft von Frisch gebackenem stieg bereits allen in die Nase und draußen hatte es noch immer empfindliche Minustemperaturen. Christofer wurde ganz unruhig und war kaum mehr zu bändigen.
Dennoch wollte er es allen Recht machen und wartete, eher ungeduldig, darauf, dass sich alle an den Tisch setzten. Anka nahm ihn wie selbstverständlich an die Hand und setzte ihn neben sich. Auf der anderen Seite von ihr nahm Peter Platz.
Steffi setzte sich bewusst Christofer gegenüber. Der unangenehme Teil für ihn folgte erst noch. Da wollte sie ihn im Auge behalten. Doch zunächst langte jeder am Frühstückstisch kräftig zu.

„Warum dürfen wir eigentlich hier essen und müssen nicht zusammen bei den anderen Patienten sitzen?“ fragte Anka nach einer Weile. „Nicht, dass ich das andere Frühstück oder die Leute vermisse, aber vermissen die nicht uns mit der Zeit?“
Jens holte tief Luft und Steffi grinste bereits, weil sie die Antwort schon kannte. „Liebe Anka,“ begann er salbungsvoll und mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Kevin und Mark prusteten schon so leise wie möglich in ihre Hände, weil sie ebenfalls wussten, was jetzt kam.
Jens begann von neuem. „Liebe Anka, lieber Peter. Aus gegebenem Anlass, und weil uns als Therapeuten das zusteht, laden wir euch sonntags immer zum gemeinsamen Frühstücken ein, fernab von den Patienten.“ Anka war so gespannt gewesen, was jetzt kommen würde, dass sie sogar vergessen hatte zu atmen.

Ohne zu überlegen und wie aus der Pistole geschossen kam von Christofer: „Und was ist mit mir?!“ Alle im Saal sahen plötzlich auf das aufgeweckte Kind. Christofer war jetzt gar nicht mehr wohl in seiner Haut. „Ja, was ist mit Christofer?“ Jens wiederholte die Frage für alle.
Bevor jedoch irgendjemand antworten konnte, war der Junge aufgesprungen, hatte sich innerhalb eines Wimpernschlages in Ourin verwandelt und wollte davon fliegen.
„Ourin, nicht!“ rief Anka verzweifelt hinterher. Doch weit kam er nicht.
Mark hatte blitzschnell reagiert und sich als Eagle auf den kleinen Drachen gestürzt. Steffi, die etwas ähnliches geahnt hatte, war ebenfalls aufgesprungen und hinterher gerannt. Im letzten Moment war ihr wieder eingefallen, dass sie ja bereits für Silvester bestuhlt hatten. Dankbar nickte sie Eagle zu.
Genauso wie sie jetzt, musste sich das Heimpersonal fühlen, wenn Christofer ausbüchste. Ob sie seine Verwandlung auch vorher zu sehen bekamen?
'Nein, dort laufe ich immer zuerst in mein Versteck... bin ja nich' blöd. Sonst würden die den Drachen auch noch suchen.' Christofer, auf dem Boden liegend, von Eagle mit einer Klaue festgehalten, wusste, dass er schon wieder verloren hatte.
Aber dieses Mal schien es ihm schon fast nichts mehr auszumachen. Im Gegenteil, Bewunderung stand in seinen Augen als er Eagle ansah. Erst als Eagle locker ließ, konnte Ourin aufstehen und sich wieder in Christofer verwandeln. Er sah den strengen Blick von Steffi, die nun direkt vor ihm stand.
'So hatte diese Pflegerin im Heim auch immer geschaut... sie wird doch nicht gleich wieder zuschlagen? …' Christofer ging unwillkürlich in die Hocke und fühlte sich ins Heim zurück versetzt. Dabei hielt er seine Hände schützend über sich. Die Freunde waren entsetzt. Das eben war so authentisch und spontan geschehen, das konnte nicht gespielt sein.

Anka tuschelte schon seit sie zurück waren die ganze Zeit mit Peter. Nun kamen beide dazu, und Anka trat zu Christofer hin und legte schützend ihren Arm um ihn. „Sag mal, Christofer. Wenn Du immer im Heim wohnst, siehst Du Deine Eltern dann ab und zu?“ fragte Anka, sich vorsichtig an das Thema heran tastend. „Meine Eltern sind tot,“ sagte Christofer gefühllos. „Ich hab sie nie kennen gelernt. Früher war ich adoptiert. Aber denen, bei denen ich war, wurde es immer schnell zu viel. Seit ich sieben bin, leb ich nur noch im Heim.“
Betretenes Schweigen herrschte. Jeder verarbeitete das Gesagte auf seine Weise. Jens brach als Erster das Schweigen. „Und wie hattest Du Dir das jetzt weiter vorgestellt, Christofer?“
Der Elfjährige wurde verlegen und sah Anka dabei hilfesuchend an. Da sie nicht reagierte, setzte er alles auf eine Karte und begann. „Seit ich mit Anka chate, fühle ich mich immer gut, wenn sie da ist. Ich wusste nicht, was ich wollte. Erst heute ist es mir klar geworden.“ Mutig trat er noch einen Schritt auf Anka zu und sah sie mit leuchtenden Kinderaugen an. „Bitte Anka, möchtest Du bitte meine Mutter sein?“ Jetzt, nachdem seine Worte gesagt waren, war er sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob er ihre Antwort hören wollte. Zumal sich Peter direkt neben Anka gestellt hatte, während er das gefragt hatte. Deshalb hörte er schon gar nicht mehr richtig zu als Peter für Anka antwortete: „Anka hat mir heute und die letzten Tage viel von sich, und auch von Dir, Christofer, erzählt. Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, würden wir Dich gerne bei uns aufnehmen. Aber dazu müssen wir uns mit dem Heim in Verbindung setzen. Anka und ich werden zusammen ziehen, wohin – das müssen wir noch klären.“
Christofer brauchte ein paar Augenblicke, bis er realisierte, was er gehört hatte.
'Sie wollen mich. Sie wollen mich wirklich. Dann hab ich nicht nur eine Mama, sondern sogar auch einen Papa. Hippieh!'
Christofer machte Luftsprünge und rannte dann zu Anka und Peter und umarmte sie. „Danke, danke, danke. Und dass Du kein Drache bist, das macht mir gar nichts aus.“ Anka und Peter sahen sich lächelnd an und küssten sich. Die Freunde staunten nicht schlecht. Dann gratulierten alle dem Paar.  
Jens zauberte von irgendwo her eine Flasche Sekt. „Darauf stoßen wir erst einmal an.“

~~~ ^v~ ~~~ ^v~ ~~~ ^v~ ~~~

Auruliyuth:
Bei der Polizei


Steffi sagte dann die ernüchternden Worte. „Wann gehen wir zur Polizei...?“
Christofer zog nichts Gutes ahnend den Kopf zwischen die Schultern. Er wollte hier nicht fort! Hier fühlte er sich verstanden!
Jens schlug vor: „Ich würde sagen, wir rufen uns ein Sammeltaxi, dann können wir alle mitfahren, und wir brauchen der Klinik noch nichts wegen Christofer sagen. Da ihr beide, Anka und Peter, noch nicht offiziell zusammen wohnt, braucht ihr vermutlich einen guten Leumund. Je mehr, je besser...“
„Was ist ein ...Läumund?“ fragte Christofer neugierig und schaute sich Anka's und Peters Mund genauer an.
„Ein Leumund ist jemand, der nur Gutes über einen spricht und sich dafür auch verbürgt, also hoch und heilig die Wahrheit spricht,“ erklärte Kevin.

Als das Taxi dann vor der Türe stand, und alle fertig angezogen waren, kam bei Christofer sofort der inzwischen bekannte Trotz wieder durch: „Ich will aber nicht zurück! Die sind dort alle so gemein zu mir!“
Anka nahm den Trotzkopf sanft in ihre Arme. „Wir lassen Dich nicht allein... ich lass Dich nicht allein! Irgend eine Lösung wird uns schon einfallen.“
Ein wenig beruhigt kuschelte sich Christofer an Anka, bevor sie ebenfalls auf die vordere Rücksitzreihe in das Taxi stiegen. Die Fahrt ging ein paar Kilometer über Land. Jens hatte nicht das nächste Polizeirevier gewählt, sondern eines in der nächstgrößeren Stadt.
Steffi wurde auf der Fahrt immer müder, und ihre Glieder wurden schwer. Einer Ohnmacht gleich sank sie an der Seite von Jens zusammen. Er hielt, von den anderen fast unbemerkt, seine Partnerin im Arm und machte sich große Sorgen um sie als er merkte, dass sie nicht einfach nur schlief, sondern nicht mehr aufwachen wollte.
Christofer unterhielt die anderen mit seinem kindlichen Humor und Charme. Er wollte nur vergessen, wohin sie fuhren, und dass er der Grund für diese Fahrt war.
In wenigen Minuten würden sie ankommen. Steffi war noch nicht wieder zu sich gekommen. Jens beugte sich so gut er konnte zu Peter vor. „Peter? - Könnt ihr dann zusammen schon mal vor gehen? Ich versuche so bald wie möglich nachzukommen. Steffi geht es nicht gut, und ich möchte sie jetzt nur ungern wecken müssen.“ Peter zeigte vollstes Verständnis dafür. Besorgt fragte er: „Was ist mit Steffi? Können wir irgendetwas tun?“ Jens lehnte dankend ab. Er wollte Christofer nicht länger warten lassen als unbedingt nötig.

Kevin, der das Gespräch mitbekommen hatte, ließ kurzerhand das Taxi halten und wechselte mit Mark den Platz, so dass er direkt neben Steffi in der hintersten Reihe Platz nehmen konnte. „Warum sagt mir denn keiner was?!“ fragte er Jens vorwurfsvoll. Dann sah er das sorgenvolle Gesicht seines Freundes und verstand. „Du kannst nicht immer alles allein tragen wollen. Steffi hat wohl auch gespürt, welche Last Du trägst. Ihr beide müsst das wirklich nicht allein machen. Wir wollen auch unseren Teil dazu beitragen.“
Während seines Moralvortrages untersuchte er Steffi bereits eingehend. Außer einer totalen Erschöpfung konnte Kevin jedoch nichts feststellen. Er reinigte ihr Energiesystem und führte Steffi alle nötige Energie mit einer Art von Drachen-Reiki wieder zu. Dabei ging er besonders behutsam vor. Er wusste, dass die Rauhnächte ihre Tücken hatten.

Als Steffi langsam wieder aufwachte, hatte das Taxi längst gehalten. Jens hatte dem Fahrer eine entsprechende Entschädigung gegeben und ihn gebeten, im gegenüberliegenden Café für die Rückfahrt zu warten. Bereitwillig war der Fahrer auf dieses großzügige Angebot eingegangen. So konnte er sich vor der kommenden Silvesternacht noch etwas erholen und hatte trotzdem keinen Verdienstausfall.
Peter war mit Anka, Christofer und Mark ins Polizeirevier gegangen, und Kevin war vorsorglich bei Jens und Steffi geblieben. Steffi sah sich hilfesuchend um. „Was ist passiert? Wo sind wir?“
„Wir stehen vor der Polizei. Die anderen sind schon drin,“ erklärte Jens. Und Kevin ergänzte die erste Frage. „Steffi, Du bist vermutlich vor Erschöpfung zusammen gebrochen... und vermutlich sind auch ein wenig die Rauhnächte schuld daran. - Wie oft hast Du Deine Gestalt heute schon gewechselt?“ Steffi überlegte einen Moment. „Nur viermal heute morgen. Beinahe noch ein weiteres Mal, doch da kam mir Mark zuvor.“
„Ein Glück, Liebes... und das alles noch vor dem Frühstück auf nüchternen Magen... Wir hätten Dich besser darauf vorbereiten sollen... nein, ich hätte das tun müssen...“ Jetzt sah Jens wirklich blass aus. Nicht auszudenken, was hätte passieren können.
Kevin griff in seine Notfalltasche und zog zwei spezielle Energieriegel daraus hervor, die er beide Steffi in die Hand drückte. „Einen isst Du jetzt sofort, den anderen heute Abend – am besten vor dem Fest. Das ist ein ärztlicher Befehl! - Und künftig immer einen morgens und einen abends nehmen, und zwei in Reserve dabei haben... und für die nächsten drei bis vier Tage gilt für Dich: Nur im absoluten Notfall die Gestalt ändern.“ Steffi nickte zustimmend und aß dabei den Riegel mit Heißhunger.
„Ich vergesse immer wieder, dass vieles noch neu für Dich ist. Obwohl wir doch schon ein paar Jahre zusammen sind. Für mich fühlt es sich jedes Mal an, als wären wir schon immer zusammen, meine Liebste.“ Jens nahm seine Steffi in den Arm und drückte sie liebevoll. Sie erwiderte seine Umarmung mit einem sanften Kuss.
Dann mahnte Kevin zum Aufbruch.
Sie gaben dem Taxifahrer im Café durch die Scheibe ein Zeichen, damit er sein Fahrzeug abschließen konnte.

Zu dritt liefen sie die Stufen im Eingangsbereich nach oben, Steffi in der Mitte mit neuem Elan, bei beiden eingehakt. Gleich hinter der Tür wurden sie gebremst von einer Art Empfangsthresen. Dahinter wurde ein junger uniformierter Beamte an seinem Schreibtisch auf sie aufmerksam und kam sogleich nach vorne.
Steffi erfasste die Situation am schnellsten. Ihre Freunde waren nicht zu sehen. Demnach mussten sie in einem der hinteren oder oberen Räume sein. Ein Bild hing keines von Christofer öffentlich an der Wand. Das war gut.
Steffi legte gleich los: „Wir sind ebenfalls wegen Christofer Dree hier, der bei Ihnen als vermisst gemeldet war. Meine Freundin, Ann-Kathrine Müller, und ich fanden ihn heute morgen halb erfroren hier im Schwenninger Moos. Können Sie uns bitte zu ihnen führen? Das wäre sehr nett. Vielen Dank.“
Von der Informationsflut und der freundlichen Art von Steffi völlig überrumpelt, wusste der junge Polizist nichts mehr hinzuzufügen. „Warten Sie bitte einen Moment hier,“ waren seine einzigen Worte. Er setzte sich an sein Telefon und rief einen Kollegen an, mit dem er sich kurz unterhielt.
Jens drückte seine Partnerin und meinte scherzhaft: „Gegen euch Verkaufstrainer ist auch noch kein Kraut gewachsen, oder?“ Steffi und Kevin grinsten beide über diesen Scherz. Das schien leichter zu gehen als gedacht.
Nur wenige Minuten später wurden sie von einem etwas älteren Beamten abgeholt. Etwas mürrisch setzte er an: „Kommen noch mehr von euch, oder seid ihr jetzt endlich alle?“ Steffi schluckte ihre erste spontane Reaktion hinunter und erklärte stattdessen: „Entschuldigen Sie bitte, wenn wir verspätet eintreffen. Daran bin ich schuld. Mir war unpässlich, und ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten im Gebäude bereiten.“ Das war zwar ziemlich weit her geholt, aber es funktionierte fast immer, wenn man an das Mitgefühl und die Menschlichkeit des anderen appellierte.
Der Beamte sah Steffi mitleidig und etwas nervös an. 'Unpässlich? Sie wird sich doch wohl nicht gleich hier übergeben müssen?!' Seine Gedanken waren fast so laut als hätte er es Steffi direkt ins Gesicht gesagt. Steffi würgte ein wenig, woraufhin der Mann noch einen Schritt schneller voraus lief. Die drei mussten sich stark beherrschen um nicht laut loszulachen. Stattdessen hoben Jens und Kevin Steffi so an, dass sie fast über dem Boden schwebte. Zuvorkommend hielt er ihnen die Türe auf.

Die Freunde im Zimmer waren zuerst erstaunt, dann mussten sie sich aber auch beherrschen um nicht loszulachen. Es sah aber auch zu komisch aus. Der Beamte in der Tür rümpfte die Nase als ob das Unglück schon geschehen wäre, und Steffi schwebte wie auf Wolken herein.
Ein zweiter Beamter, ein Hauptkommissar Zimmerer, war gerade damit fertig gewesen das Protokoll zu schreiben. Er las das Aufgeschriebene noch einmal laut vor und fragte dann: „Ist dem noch etwas hinzuzufügen?“ Steffi bestätigte das Gehörte, das sie zwar nicht von Anfang an, aber doch das meiste davon miterlebt hatte. „Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. - Haben Sie schon das Heim erreichen können? Was sagen die dazu? Darf Christofer Dree über Silvester und Neujahr bei Ann-Kathrine Müller und Peter Narender bleiben? Was sagt das Heim zu einer Adoption? Oder wenn keine Adoption möglich ist, was spricht gegen eine Pflegefamilie? Wir sind alle mitgekommen, um für diese beiden zu bürgen, wenn es nötig ist...“
Jens bremste seine bessere Hälfte Augen zwinkernd aus: „Steffi … jetzt mal langsam und eins nach dem anderen. Lass dem Herrn auch mal Zeit um Luft zu holen und antworten zu können.“
„Danke, Herr ….“ „Mattens. Jens Mattens. Hier, meine Karte von der Klinik.“ „Danke, Herr Mattens.“ Hauptkommissar Zimmerer nahm die Karte und blickte dann von einem zum Anderen. Zuletzt blieb sein Blick auf Christofer ruhen, der selber immer unruhiger und zappeliger wurde. „Und Du, junger Mann? Würdest Du es denn gerne bei diesen beiden hier versuchen wollen über Silvester und Neujahr?“
Gespannt schaute der Beamte auf das wechselnde Mienenspiel von Christofer. Dieser musste sich seine Worte passend zurecht legen. „Herr Kommissar,“ begann er ganz ernst und höflich. „Ich würde ja schon ganz gerne...“ „Aber?“ „Nur, wissen Sie, Silvester und Neujahr ist mir zu wenig...“
Alles grinste und lachte heimlich bei diesen erstaunlich erwachsenen Worten. Der Kommissar schmunzelte noch als er sagte: „Gut, Christofer. Dann machen wir zwei einen Deal: Ich komme nach Neujahr bei euch in der Klinik vorbei und höre mich um, was es über Dich zu berichten gibt. Und wenn das Kinderheim einverstanden ist, darfst Du noch ein paar Tage länger bleiben. Ist das in Ordnung?“
Christofer überlegte und sah dann Anka und auch Peter fragend an. Beide nickten lächelnd, ihm Mut zusprechend. Der Elfjährige antwortete ernst: „In Ordnung, Herr Kommissar.“ Und nach kurzem Überlegen fragte er noch zögernd und verunsichert: „Bin ich jetzt ein Dealer?“
Der Mann sah den Jungen verwundert und etwas entsetzt an. Anka grinste in sich und hatte sofort verstanden. „Sie müssen entschuldigen, manches was man umgangssprachlich oder unbedacht äußert oder schreibt, muss Christofer immer gleich hinterfragen. Er hat das Wort 'Deal' anders verstanden, oder besser gesagt, wörtlich genommen.“
Obwohl der Beamte bemüht war sich zu beherrschen, lief er doch ganz leicht rot an und musste trotzdem schmunzeln. So etwas peinliches war ihm noch nie unter gekommen. Und dann auch noch vor einem Elfjährigen. „Christofer, ein Deal ist eine Vereinbarung, ein Handel. Wenn Du so willst, sind wir quasi Handelspartner.“ „Ach so. Na dann bin ich einverstanden.“

Der Beamte nahm noch die Formalitäten auf, kam dieses Mal telefonisch sofort beim Kinderheim durch und konnte die Heimleitung ebenfalls für das getroffene Abkommen gewinnen.
Sie hatten erreicht, dass Christofer wenigstens Silvester und Neujahr bleiben durfte. Und je nach dem wie er sich benahm, meinte die Heimleitung, könnte man über eine Verlängerung noch reden. Aber vorerst nur als Pflegekind. Zu viele Ehepaare brachten Christofer bereits enttäuscht, gefrustet und genervt wieder zurück.

„Das ist doch immerhin ein Anfang,“ meinte Anka etwas enttäuscht, während sie zum Taxi zurück liefen. Christofer versprach das Blaue vom Himmel: „Ich versprech' auch, dass ich ganz brav sein werde. Und ich helf' Dir im Haushalt. Und mein Zimmer räum' ich sowieso jeden Tag dreimal auf...“ Alle lachten als sie ihn so reden hörten. Anka meinte dazu: „Im Haushalt musst Du mir nicht helfen. Vielleicht hin und wieder beim Abwasch helfen, das wäre nett.“ „Und Du musst jeden Tag mindestens eine Stunde an die frische Luft,“ verordnete Kevin. „Aber nicht in deiner Drachengestalt. Weil so lernst Du niemals mit den anderen Kindern zu spielen,“ ergänzte Peter. „Außerdem genügt es, wenn Du Dein Zimmer einmal in der Woche gründlich aufräumst. Die meisten Kinder erledigen das samstags.“
„Wir kümmern uns jetzt erst einmal um den Silvesterabend,“ wechselte Jens das Thema. Ihr drei könnt ja später dazu kommen, wenn ihr eure Zukunftspläne geschmiedet habt,“ zwinkerte er dabei. „Aber haltet uns auch wenigstens einen halben Tag in der Woche frei, für Flugstunden und was dazu gehört.“ „Ist notiert. Meinetwegen auch einen ganzen Tag,“ erklärte Anka lachend.

Mit dem Taxi fuhren alle heiter und ausgelassen zurück in die Klinik.
Anka und Peter regelten sofort mit der Verwaltung die Unterbringung von Christofer. Praktischer weise hatte Anka bereits zwei Betten in ihrem Zimmer.
Zum Einkaufen gehen war es inzwischen jedoch bereits zu spät. Die Geschäfte hatten fast alle schon geschlossen. Die Kinderbetreuung zauberte aus irgendeinem Fundus ein paar Kleider, so dass Christofer nicht ständig in denselben Sachen herumlaufen musste. Sogar eine Badehose war dabei, und so vergnügten sich die drei gleich als erstes im Klinik eigenen Schwimmbad.

~~~ ^v~ ~~~ ^v~ ~~~ ^v~ ~~~

Auruliyuth:
Silvester


Jens hatte sich der Klinik gegenüber bereit erklärt, die Feier für die Silvesternacht zu organisieren, und natürlich halfen ihm seine beiden Freunde dabei. Steffi hatte er dringend Bettruhe verordnet. Bereitwillig legte sie sich hin, nachdem sie noch wie versprochen den zweiten Energieriegel zu sich nahm.
Steffi wollte den Tag noch einmal Revue passieren lassen, aber schon nach wenigen Minuten war sie, trotz zusätzlichem Energieschub, tief und fest eingeschlafen.

Die meisten der Patienten hatten sich über die Feiertage von der Reha befreien lassen und verbrachten den Jahreswechsel bei ihren Lieben zu Hause. Diejenigen, die noch dageblieben waren, hatten zum Teil Besuch bekommen und überlegten noch wo sie in die Nacht hinein feiern wollten. Schließlich mussten alle kurz nach Mitternacht wieder zurück in der Klinik sein, „Das ist ja fast wie bei Aschenputtel,“ wie sie sich einig waren.
Jens hatte durchblicken lassen, dass die Dekoration ähnlich einem Maskenball sein würde. 'Und um Mitternacht, beim zwölften Glockenschlag, ist alles wieder vorbei und jeder lässt seine Maske fallen.'

Der Festsaal, den die wenigsten bisher gekannt hatten, wurde erst eine Stunde nach dem Abendessen geöffnet. Solange mussten sich alle gedulden. Das offene Thema „Mittelalter“ wurde zwar bekannt gegeben, doch nur wenige konnten sich etwas darunter vorstellen oder hatten entsprechende Kostüme dabei.
Doch wie sich bei der Öffnung des Saales herausstellte, hatten die Freunde an alles gedacht. Eine ganze Garderobe voll mit Kostümen, die man zur Zeit der Salzsieder, Bauern und Ritter im Mittelalter getragen hatte, stand bereit. Und auf dem Tisch lagen die verschiedensten Masken und Helme hinter denen man sich verbergen konnte.
Die Dekoration im Saal selber war jedoch durch nichts zu toppen. Der Festsaal sah aus wie ein Burghof auf einer Ritterburg. Selbst die Terrasse war mit einbezogen, wenn auch nicht zugänglich.
Durch die Scheiben konnte man dort einen großen westlichen Drachen in Ketten bewundern. Der Drache sah fast genauso aus wie Draco aus dem Film Dragonheart. So manch einer fragte sich den Abend über, woher die Klinik die Dekoration und die Effekte hatte. Denn der Drache spukte von Zeit zu Zeit Feuer in die Luft, und er sah verflixt echt aus.

Die Freunde hatten sich einheitlich für Salzsieder entschieden, nur Christofer bevorzugte es ein Ritter zu sein. Sein Helm war aus Pappmaché hergestellt worden, das man auf einen Luftballon geklebt hatte und anschließend mit einer metallic Farbe überzogen hatte. Die filigranen Ornamente hatte man mit Pinsel aufgemalt.
Die Masken der Männer waren in grau und weiß gehalten und nur die Augen konnte man sehen. Der untere Teil des Gesichts bis zum Kinn war mit Stoff verhangen.  Die Frauen steckten sich mit Haarnadeln eine Art Netzmaske ähnlich einem Gardinenstoff oder dünnem Nylon vor das gesamte Gesicht.
Steffi hatte ein besonderes Geschick darin, den Frauen auf Wunsch in Windeseile eine Hochsteckfrisur zu zaubern und daran die Netzmaske kunstvoll zu befestigen.

Der Maskenball war wirklich etwas besonderes und deshalb sprach es sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Klinik. Kaum jemand hatte jetzt noch das Bedürfnis irgendwo anders hinzugehen. Fast alle waren gekommen und hatten Spaß  daran sich zu verkleiden.
Die kostenlosen Getränke waren zwar einfach gehalten und bestanden durchweg aus alkoholfreien Fruchtsäften in Form von Bowle oder warmem Punsch, oder einfach nur als Tee oder Saft, doch sie schmeckten so köstlich, dass mancher Patient durchgehend an der Bar oder am Buffet verweilte.
Zum Knabbern standen Schüsseln mit Fladenbrot und die üblichen Knabbereien auf den Tischen oder Waffelteig neben einem Waffeleisen, für Waffeln, welche man sich selber aus backen konnte.
Den DJ machte Mark und hatte dafür Musik für jedermanns Geschmack, sowie auch passendes für die Mittelalterkulisse gewählt.
Zu Beginn des Abends trauten sich noch nicht sehr viele Patienten zu tanzen. Alles im Saal und drum herum musste zuerst inspiziert und begutachtet werden.

Jens gab Mark ein Zeichen und nahm Steffi mit auf die Tanzfläche um ein wenig Stimmung und Atmosphäre zu schaffen. Zu einer Polka zeigten beide ein paar leichte einprägsame Schritte und luden die Umstehenden zum Mitmachen ein.
Nach und nach füllte sich die Tanzfläche und Begeisterung machte sich breit. Nachdem die Polka gleich fünfmal hintereinander gespielt wurde, ließ Mark einen Kreis bilden und alle tanzten die leicht merkbaren, vorgemachten Schritte von Jens und Steffi nach.
Mit der Zeit vergaßen die meisten Patienten, wer sich hinter welcher Maske verbarg. Jeder tanzte und unterhielt sich mit Jedem.

Im Nu ging es auf Mitternacht und den Jahreswechsel zu. Das bemerkten viele allerdings erst, als die Organisatoren bereits den Sekt auf den Tabletts anboten. Christofer, der gar nicht müde zu werden schien, durfte helfen und hatte ein kleineres Tablett mit Saft und Kindersekt, welches er galant jenen reichte, die keinen Alkohol mochten oder ihn nicht vertrugen.

Pünktlich um Mitternacht fielen alle Masken. Man prostete sich zu und wünschte sich gegenseitig ein Gutes Neues Jahr. Und anschließend bewunderten die Patienten und ihre Angehörigen von dem leicht erhöhten Standort der Klinik das Feuerwerk, das das Neue Jahr begrüßte.
Den Drachen hatte Jens ein paar Minuten zuvor von seinen selbst gewählten Ketten gelöst und dankend nach Hause geschickt.

Die Freunde standen beisammen und ließen die letzten Tage noch einmal an sich vorbei ziehen. Sie waren fest zusammen gewachsen, als wenn sie schon immer zusammen gehören würden. „Und auch für Christofer werden wir in den nächsten Tagen eine Lösung finden, damit er bei uns bleiben kann,“ meinte Anka zuversichtlich. Und Peter ergänzte: „Dem Kommissar wird es gefallen, wie toll Du Dich entwickelt hast, Christofer.“ Der Junge war kaum wieder zu erkennen. Begeistert war er seinen Wunscheltern um den Hals gefallen.
„Und darauf lasst uns anstoßen,“ vollendete Jens die Lobeshymnen.
 „Auf eine neue gemeinsame Zukunft!“

Christofer war am Schluss doch noch zu neugierig. „War der Drache eigentlich echt?“ Jens grinste geheimnisvoll und nickte. „Ja, aber wir sagen's niemandem,“ zwinkerte er Christofer zu. „Das bleibt unser Geheimnis.“

~~~ ^v~ ~~~ ^v~ ~~~ ^v~ ~~~

Auruliyuth:
Aufgeflogen


Bereits eine halbe Stunde nach Mitternacht war Ruhe in die Klinik eingekehrt. Selbst Steffi wurde von Jens mit einem zärtlichen Gute-Nacht-Kuss verabschiedet: „Du brauchst Deinen Schlaf, liebste Steffi. Es war ein sehr langer und anstrengender Tag für Dich.“ „Für Dich aber auch, liebster Jens. Ich freu' mich schon darauf, wenn wir hier wieder weg kommen. Ich vermisse Dich ... irgendwie.“ Jens konnte seine Partnerin nur zu gut verstehen. „Ich vermisse Dich ebenfalls, Liebes. Ein paar Tage, Christofer zu Liebe, müssen wir noch durchhalten.“
Er zog Steffi in einer dunklen Ecke in seine starken Arme und küsste sie leidenschaftlich. Steffi gab sich für den Moment ebenfalls ihren Gefühlen hin und genoss die Liebkosungen in vollen Zügen. Nach einem langen sinnlich intensiven Kuss lösten sie sich widerstrebend voneinander und wünschten sich auf dem Gang wie hinter einer Maske ganz förmlich 'Gute Nacht'.
Ein Schatten huschte am Fenster entlang und war gleich darauf wieder verschwunden. 'Was war das eben?' Beide hatten etwas gesehen, waren sich jedoch nicht sicher was es gewesen war. 'War es etwas von Bedeutung, dann werden wir das bald wissen,' gab Jens zu verstehen.

Steffi ging in ihr Zimmer. Sie wollte nur noch schlafen, obwohl sie bereits am Mittag tief und fest geschlafen hatte. Sie war gerade unter ihre kuschelige Bettdecke geschlüpft und hatte das Licht gelöscht, als es an ihrer Tür klopfte. 'Hatte Jens etwas vergessen?'
Sie fragte nach: „Wer ist da, bitte?“ Ein rascheln, dann kam Antwort: „Ich muss dringend mit Ihnen reden.“ Steffi kannte diese Stimme nicht. „Kann das nicht bis morgen warten? Es ist mitten in der Nacht!“
Steffi setzte sich auf und machte das Licht an. 'Natürlich konnte nichts bis zum Morgen warten, weswegen man mitten in der Nacht an fremde Türen klopfte... - Jens?!' 'Ja, Liebes?' Jens hatte die Dringlichkeit gehört.
'Bei mir steht jemand vor der Tür und will mit mir Reden. Ich bin mir sicher, es geht dabei um uns beide.' Steffi hatte die flüsternde Stimme vor der Tür nicht mehr gehört, wohl aber das Rascheln. „Nein, kann es nicht! Morgen könnte es bereits zu spät sein!“
Steffi schlüpfte aus dem warmen Bett und ging zum Bad. „Einen Moment, bitte. Ich komme ja schon.“ Dort hatte sie ihren flauschigen weißen Bademantel und zog ihn sich über. Dann ging sie zur Tür und öffnete sie.
Vor ihr stand eine junge Frau zwischen fünfundzwanzig und dreißig. „Darf ich?“ fragte sie mit einem unergründlichen kalten Lächeln und wartete die Antwort gar nicht erst ab. Stattdessen war sie zielstrebig an Steffi vorbei ins Zimmer gerauscht.

Steffi stand verdutzt da. Was wollte die Frau da mitten in der Nacht in ihrem Zimmer?!
Die Frau drehte sich suchend im Raum und fand offensichtlich nicht, was sie gemeint hatte zu finden. Steffi war verärgert über das Verhalten dieser Person. Sie musste ihre Wut runter schlucken, bevor sie in einem höflichen, aber eisigen Ton fragte: „Und? Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben?!“ Die Frau war verdutzt und verwirrt. 'Ich war mir so sicher gewesen!'
Steffi wartete noch immer auf eine Antwort. Sie konnte zwar hören, was die Patientin gedacht hatte, aber das interessierte sie jetzt nicht. In kühlem, berechnendem Ton fragte sie noch einmal: „Wer sind Sie?! Und wer gibt Ihnen das Recht hier in mein Zimmer zu stürmen... und das mitten in der Nacht?! - Nein, warten Sie noch mit der Antwort. Es fehlt noch jemand... vermutlich der, den Sie suchen!“ Bei ihren letzten Worten besah sich Steffi die Frau ganz genau. Ein wenig Mitleid hatte sie ja schon... '… reize niemals einen Drachen!...'
'...sonst erlebst Du den nächsten Tag nicht, oder aber dein blaues Wunder,' ergänzte Jens sie in Gedanken. 'Ich steh vor Deiner Tür, Liebes. Sei bitte nicht zu streng mit ihr. Denk daran, wo wir gerade sind.'  Steffi richtete ihre Stimme zur Tür. „Herr Mattens, sie können herein kommen.“
Allein diese Worte genügten bereits, dass die Frau aschfahl im Gesicht wurde und um Luft rang. 'Wie konnte Frau Reimor wissen, dass da jemand vor ihrer Tür war? Ich bin doch selber gerade noch allein davor gestanden,' überlegte sie irritiert.
Als dann gespenstisch leise die Tür geöffnet wurde und Herr Mattens höchst persönlich darin stand, gab ihr das den Rest. Sie ließ sich mit letzter Kraft auf den einzigen Stuhl im Raum sinken und begann lautlos zu schluchzen.

Steffi und Jens sahen sich überrascht und erschrocken an. Da war jemand vor ihnen zusammengebrochen, noch bevor sie ihre Vorwürfe und Beobachtungen los werden konnte. In Steffi war, trotz allem was die Frau ihnen antun wollte, der Beschützerinstinkt erwacht.
Sie holte vom Tisch ein frisch gefülltes Wasserglas und gab der Frau zu trinken. Jens, in Erster Hilfe ausgebildet, fühlte vorsorglich den Puls der Patientin. Der Puls war im normalen Bereich, und langsam bekam sie auch wieder Farbe im Gesicht.
„Es tut mir leid... es tut mir so leid...“ stammelte die Frau immer wieder. Steffi legte ihre linke Hand beruhigend auf den Rücken der Patientin. „Jetzt sagen Sie uns erst einmal wie Sie heißen,“ redete Steffi beruhigend auf sie ein. Die Frau wurde ruhiger und sammelte sich wieder. Sie blickte von einem zum anderen. „Ich heiße Maria. Maria Schneck. - Und ich schäme mich so dafür,  dass ich dachte Sie hätten ein Verhältnis miteinander. - Heute Abend war ich so fest davon überzeugt, dass ich es genauer wissen musste... Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gut machen kann.“
Jens sah Steffi heimlich an. 'Ich liebe Dich, mein Schatz.' Steffi lächelte und nickte mit einem Augenaufschlag. Sie wurde gerade von Maria beobachtet, die das alles immer noch nicht begreifen konnte. „Maria, wie sind Sie denn nur darauf gekommen...?“
Steffi wurde von Maria unterbrochen, die sich alles möglichst schnell von der Seele reden wollte. „Als ich vorletzte Woche hier ankam, war ich ganz allein. Ich hab mich hilflos und verloren gefühlt. Dann waren da ein paar Frauen in meinem Alter, die mich quasi aufgenommen haben in ihrer Runde. Ich war so dankbar und hab das auch immer wieder gesagt. Die Frauen müssten Sie eigentlich auch kennen, Herr Mattens. Wir waren bei jeder Ihrer Veranstaltung, Spiele oder Wanderungen. Jede einzelne, mich eingeschlossen, himmelt Sie an.“
Bei diesem Geständnis wurde Maria rot und sah verlegen auf den Boden.
Steffi grinste ihren Lebensgefährten an und sendete ihm: 'Ich himmle Dich auch an, mein Frauenschwarm, mein Verhältnis und mein Geliebter.' Jens, von so vielen Komplimenten überschüttet, wusste zunächst nichts zu erwidern. Er reichte stattdessen Steffi hinter Marias Rücken die Hand und drückte sie liebevoll. „Ich kann und darf in der Klinik niemanden bevorzugt behandeln, es sei denn, derjenige gehört zu meiner Familie. Was meinen Sie, was sonst geschehen würde?“ Jens lächelte Frau Schneck aufmunternd an. „Und was ist dann passiert?“ Jetzt wollten die beiden alles wissen.
Maria überlegte, wie sie weiter erzählen sollte. „Na ja, wir haben Sie eifersüchtig beobachtet und immer wieder gesehen, dass Sie sich mit Ihr... mit Steffi Reimor, unterhalten haben. Aber sonst mit keiner anderen Frau so viel wie mit ihr... oder, warten Sie... da war noch die andere, Anka Müller hieß die, glaube ich. Aber die haben wir von der Liste gestrichen, weil die ja mit Peter... Peter Narender, oder so, geht. Und... hatte die nicht heute Abend ein Kind dabei?...“
„Aber hallo, ihr seid ja richtige... Detektive,“ gab Jens spontan von sich. '...oder Stalker,' erwiderte Steffi ironisch in Gedanken. 'Da ist man seines Lebens ja nicht mehr sicher.'
Steffi war leicht schockiert und spann den Gedanken entsetzt weiter. 'Am Ende wissen die auch noch, dass wir keine normalen Menschen sind!'
Jens war der Gedanke eben auch gekommen. 'Jetzt geben wir denen erst mal genug Zündstoff mit uns beiden. Und ich begebe mich morgen gleich zum Leiter der Klinik und werde ihm alles beichten.'

Maria wusste jetzt nicht, ob sie das wirklich als Lob verbuchen konnte. „Sie scherzen, Herr Mattens. Denn letztlich hatten wir, Entschuldigung, wenn ich es noch einmal erwähne, mit Ihnen beiden unrecht, oder nicht?“ Jens nahm Steffis Hand und kam damit hinter Marias Rücken nach vorne. „... oder nicht,“ wiederholte er Marias Worte. „Ja und nein.“
Jetzt war Maria verwirrt und staunend blieb ihr sogar der Mund offen stehen. „Sie bekommen jetzt ein Geheimnis anvertraut. Hüten sie es gut.“ Verwirrt schaute Maria von Herrn Mattens zu Steffi Reimor, und dann sah sie dazwischen die Hände der beiden. „Ihr... Sie... beide...“ stotterte sie. „Ja, wir beide. Jens und ich,“ gab Steffi zu. „Aber wir haben kein Verhältnis oder Abenteuer miteinander... und er ist auch nicht mein Kurschatten, wie ihr vermutet hattet, obwohl?...“ verschmitzt lächelnd sah sie ihn an.
„Steffi und ich,“ begann Herr Mattens von neuem um alle Missverständnisse auszuräumen. „Wir beide sind schon seit ein paar Jahren fest zusammen. Nur durfte das von den Patienten keiner wissen. Weil  eben sonst genau das hier dabei passieren würde.“
Maria nickte betroffen. „Ich glaube, ich hab's verstanden. Und ich darf's niemandem sagen?“ Jens und Steffi nickten. „Uns wäre es lieben, wenn Sie das als Geheimnis wahren würden. In einer Woche sind wir eh weg, dann wird niemand mehr danach fragen,“ erklärte Jens.
„Und jetzt sollten wir alle rasch schlafen. Es ist schon sehr spät... oder vielleicht sollte ich sagen... schon wieder sehr früh.“ Maria stand auf und verabschiedete sich. „Gute Nacht zusammen und noch mal Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten.“ „Gute Nacht, Frau Schneck. Und schlafen Sie gut.“

„Und nun Frau Reimor? Wie wäre es jetzt mit Schlafen?“ neckte Jens seine Angebetete. „Aber gerne, Herr Mattens. Bei Dir oder bei mir?“ erwiderte sie spontan und wurde gleich darauf wieder ernst. „Meinst Du, Du könntest es hin bekommen, dass wir die letzten paar Tage noch zusammen verbringen können, ich meine die Nächte natürlich.“ Jens spürte, dass es Steffi sehr Ernst damit war. „Ich schau morgen was sich machen lässt, meine Liebste.“
Er verabschiedete sich noch einmal mit einem sehr innigen Kuss, der sie beide um ein Haar auf's Bett gleiten ließ. Jens beugte sich über Steffi und setzte sie sanft auf dem Bettrand ab. Dann strich er ihr noch einmal zärtlich über ihr samt weiches herrlich duftendes Haar. „Gute Nacht, Steffi. Du bist mein Leben. Ich liebe Dich.“
Dann drehte er sich rasch um und schloss leise die Tür hinter sich. Zurück blieb eine traurige, und dennoch auch glückliche Steffi, die mit Tränen in den Augen ein schlief.

~~~ ^v~ ~~~ ^v~ ~~~ ^v~ ~~~

Navigation

[0] Themen-Index

[#] Nächste Seite

[*] Vorherige Sete