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21  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Der Erdbeerdrache am: 29.Juli.2008, 17:51:35
Greldon erwachte grummelnd, als der Morgennebel seine kalt-feuchten Finger nach seinem Schuppenleib ausstreckte. Missmutig richtete er sich auf und schüttelte sich. Wie er die Vollmondnächte hasste. Zum einen konnte er da nie richtig schlafen und zum anderen hatte er dann – fiel er schließlich doch noch in den Schlaf – meist ausgesprochene Albträume.
Diese Nacht war sein Traum besonders bizarr gewesen: Lianenartige Schlingpflanzen hatten sich um seinen Leib geschlungen und ihn bewegungsunfähig gemacht, während eine schwarze und eine weiße Ratte, beide weitaus größer als Ratten gemeinhin waren, abwechselnd an seiner Schweifspitze genagt hatten.
Außerdem hatte sein Bauch die ganze Nacht über rumort und wenn er es genau bedachte, so rebellierte es immer noch in seinem Magen. Die Kuh, die er noch kurz vor dem Schlafengehen geschlagen und verzehrt hatte, konnte es nicht gewesen sein. Die war, soweit er es beurteilen konnte, jung und zart im Fleische gestanden. Es gab eine Erklärung für sein Unbehagen, aber das wollte er sich nicht eingestehen. Und selbst wenn: Das bisschen  Magengrimmen war ein Preis, den er gerne für den Genuss von Erdbeeren bezahlte. Abgesehen davon war es gar nicht erwiesen, dass es da überhaupt einen Zusammenhang gab.
„Autsch!“ entfuhr es ihm und er rieb sich seinen Bauch.
Sehr eilig verließ er die Höhle.

Als er endlich fertig war mit dem, was er so dringend hatte erledigen müssen, trottete er zu dem nahe gelegenen Bach, um seinen Durst zu stillen und sich zu erfrischen.
In großen Schlucken soff er gierig das frische Wasser und betrachtete nicht ohne Stolz sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche.
Er war in der Tat ein prächtiger Drache und stand in der Blüte seines Lebens. Sein Körper strahlte Kraft und Ausdauer aus.
Er dachte an seine Kämpfe zurück, die er vor nicht allzu langer Zeit ausgefochten hatte mit anderen männlichen Drachen. Er war daraus als Sieger hervor gegangen, klar und strahlend, und hatte auf diese Weise das Herz seiner großen Liebe errungen. Kurz darauf hatten sich die beiden zurückgezogen und in einem wilden Flug sich ihrer Leidenschaft zueinander hingegeben. Sie würden vereint sein, für immer mit ihren Leibern und mit ihren Herzen.
Mitten in diese süßen Gedanken platzte das erneute Grollen, das seinem Magen entsprang.

„An Deiner Stelle würde ich das nicht tun“, ließ sich unmittelbar darauf eine vertraute Stimme vernehmen, als Greldon einen weiteren Schluck Wasser zu sich nehmen wollte.
Der Drache hob sein stattliches Haupt und blickte geradewegs in die funkelnden Augen seiner Liebsten.
„Auruliyuth“, murmelte Greldon verlegen. Er hatte sich schon gefragt, wo sie nur stecken würde – der Platz neben ihm in seiner Höhle war heute Morgen leer gewesen.
„Nun, endlich aufgewacht, Du Faulpelz?“
Ihre Schuppen waren wie goldener Wüstensand und ihre Augen glichen flüssigem Bernstein. Sie trat an ihren Liebsten heran, um ihren schlanken Kopf an seiner Brust zu reiben.
„Du weißt doch, wir haben eine weite Reise vor uns. Es wird höchste Zeit, einen geeigneten Platz für das Nest zu finden. Ich spüre schon deutlich, dass es schon sehr bald so weit sein wird, mein geliebter, starker Greldon. Aber so wie es aussieht, hast Du Dich gestern wieder einmal hoffnungslos überfressen. Mit was diesmal?“
„Ich werde einen Nistplatz für uns finden und ich werde für Dich das Nest mit den funkelnden Sternen des Himmels schmücken, meine geliebte Auruliyuth“, versprach der männliche Drache mit zärtlicher Stimme und überhörte geflissentlich ihre spitze Frage. Liebevoll leckte er die Schnauze seiner Gefährtin, doch die Drachin war viel zu klug und zu erfahren, als dass sie sich auf diese Weise hätte ablenken lassen.
„Du hast wieder zu viele Erdbeeren genascht, ist es nicht so? Und nun säufst Du den Bach leer. Nicht sehr klug, weißt Du das?“
„Aber ich...“
„Ich habe Dir schon so oft gesagt, Erdbeeren sind keine geeignete Nahrung für ein ausgewachsenes Drachenmännchen. Zumal ich nun auf Deine Kraft und Stärke angewiesen bin. Ihr Götter! Wie kann man nur so verantwortungslos und dumm sein?“
Sie gab ihm einen zwar immer noch spielerischen, aber doch auch nachdrücklichen Hieb mit ihrer Tatze auf seine Schnauzenspitze.
„In diesem Zustand willst für mich die Sterne vom Himmel holen? Deinen Bauch zerreißt es beinahe und abgesehen davon bist Du ohnehin zu faul, Deine Schwingen zu strecken. Und da sprichst Du davon, des Nachts zu den Sternen zu fliegen? Wo hast Du diesen Unsinn überhaupt aufgeschnappt?“
„Ich hatte vor kurzem eine sehr interessante Begegnung mit einem fahrenden Sänger und eine sehr wohlschmeckende obendrein“, erklärte Greldon, froh darüber, dass er nun nicht weiter mit dem leidigen Thema, dass Erdbeeren nichts für ausgewachsene Drachen seien, behelligt wurde.
„Wohlschmeckend? Du hast doch nicht etwa…“
In Auruliyuths Augen stand blankes Entsetzen geschrieben.
„Nein! Nein! Nicht, was Du denkst!“ rief Greldon aus und versuchte seine Gefährtin zu beschwichtigen.
„Ich schwöre Dir, ich habe ihm kein Leid angetan. Wir haben uns nett unterhalten und er hat lediglich seine Erdbeeren mit mir geteilt.“
„Schon wieder Erdbeeren! Und er hat sie mit Dir geteilt, so nennst Du das also“, grollte Auruliyuth und drückte eine Krallenspitze in Greldons weiches Bauchfell.
 „Ich kenne Dich doch. Genommen haben wirst Du sie diesem Menschen. Erst stiehlst Du sie aus den Gärten dieses Erzmagiers und nun raubst Du auch noch einen wehrlosen Sänger aus. Wahrlich, einen prächtigen Gatten habe ich mir da in mein Nest geholt!“
„Nein, wirklich, er hat sie mir von sich aus gegeben und…“
„Ja, nachdem Du ihm wahrscheinlich keine Wahl gelassen hast, Du alter Gierschlund.“
Greldon seufzte. Weshalb glaubte ihm seine Gefährtin nicht? Er unternahm noch einen zaghaften Versuch: „Schatz, ich habe ihn nur gefragt, was er in seinem Beutel bei sich führte, da mir dieser herrliche Duft in die Nüstern gestiegen ist. Und als ich ihn dann darum bat, an dem Beutel zu schnuppern zu dürfen, hat er sie mit mir bereitwillig geteilt. Er hätte es ja auch ablehnen können.“
Auruliyuth versetzte ihrem Gefährten einen weiteren Hieb, der nun so gar nichts Liebevolles mehr hatte.
„Und Du meinst, er hätte das wirklich getan? Ein Mensch, der zu einem Drachen aufblicken muss, vor allem wenn es sich um ein solch stattliches Exemplar wie Dich handelt, würde dem Drachen dann einen Wunsch abschlagen?“
Greldon ließ den Kopf hängen, als er erkannte, dass es für ihn heute mit Sicherheit keinen gemütlichen, ruhigen Morgen geben würde.
Auruliyuth war auch noch lange nicht fertig mit ihrer Standpauke.
„Du dummer, erdbeersüchtiger Gatte. Dein nahezu krankhaftes Verlangen nach Erdbeeren wird noch einmal Dein Untergang sein und überhaupt...“

Den Rest hörte Greldon schon nicht mehr. Er hatte sich mit seinen Hinterbeinen kraftvoll vom Boden abgestoßen und stieg mit kraftvollen Flügelschlägen immer höher.
Weibchen! Wissen wenig, plaudern viel, dachte er sich und war zuversichtlich, dass sich seine Gefährtin in ein paar Stunden wieder beruhigt haben würde.
Nun war nicht nur Greldons Magen verstimmt.
„Ich und erdbeersüchtig, die hat doch einen Klopfer… Was weiß denn schon ein Weibchen von meinen Bedürfnissen“, grummelte er vor sich hin, als er hoch am Himmel seine Bahnen zog.

Er achtete gar nicht darauf, in welche Richtung er flog, doch als er eine prachtvolle Gartenanlage mit Gewächshäusern und zahlreichen Feldern und Beeten unter sich auftauchen sah, blitzten seine Augen gierig auf und seine Laune besserte sich schlagartig.
Er verlagerte sein Körpergewicht ein wenig und ging in einem langsamen Sinkflug über.
Er erkannte sehr wohl das dazugehörige Anwesen und für einen kurzen Augenblick dachte er an jene Lichtblitze, die nach seinem Schweif gegriffen hatten. Doch das Verlangen nach den verbotenen Früchten war größer als jede Vorsicht oder gar Vernunft.
Mit seinem scharfen Drachenblick konnte er genau erkennen, dass wieder zahlreiche Erdbeeren gereift waren und auf ihre Ernte warteten. Und Greldon war sich sehr wohl jener Tatsache bewusst, dass es sich bei diesen Erdbeeren um die wohl exquisitesten Früchte im ganzen Land handelte.
Ein gutes Stück von Khirdras Anwesen entfernt landete Greldon und legte sorgfältig seine Flügel an. Voll freudiger Erwartung näherte er sich dem Ziel seiner Begierde, immer wieder vorsichtig in die Luft schnuppernd und lauschend, ob sich der Besitzer nicht irgendwo versteckt hielt. Aber es schien alles in bester Ordnung; offensichtlich war Khirdras ausgegangen. Nun, ein Meistermagier hatte sicherlich zahllose Verpflichtungen und Greldon ging davon aus, dass er sich ungestört den Bauch voll schlagen konnte. Sollte der Zauberer wirklich unverhofft auf der Bildfläche erscheinen, nun, Greldon würde sich blitzschnell in die Lüfte erheben und dann konnte man immer noch sehen.
Mit geblähten Nüstern den herrliche Duft des göttlichen Obstes aufnehmend, stand Greldon  am Rande des Erdbeerfeldes. Er ergötzte sich noch ein wenig an dem Anblick. Sein Schweif peitschte in freudiger Erregung, als der Drache schließlich sein Haupt senkte und mit spitzen Krallen die erste Frucht pflückte, freilich dabei versehentlich die Erdbeere mitsamt dem Grün ausreißend.

***
22  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Der Erdbeerdrache am: 28.Juli.2008, 20:22:48
Kleine Staubwölkchen wirbelten unter seinen Schritten auf, als er die gewundene Steintreppe in das Kellergewölbe hinab stieg.
Ich muss mir wirklich einmal die Zeit nehmen, hier gründlich sauber zu machen, dachte sich Khirdras, als er zum wiederholten Male niesen musste, weil ihm der Staub in die Nüstern gestiegen war.
Die Suche in seiner Bibliothek war erfolglos gewesen, aber ihm war eingefallen, dass er irgendwo in seinem Keller noch einige alte Folianten aufbewahrte. Er war überzeugt davon, dass er dort fündig werden würde.
Etliche Stufen und Niesanfälle später stand er fluchend vor einem Berg an Gerümpel und irgendwelchem Tand, das er in all den Jahren achtlos in den Keller geworfen hatte. Und irgendwo dazwischen sollte sich eine Truhe mit den Folianten befinden.
Seufzend entzündete er mehrere Lichter, um den Raum zu erhellen und machte sich an die Arbeit. Wie so oft schon haderte er dabei mit seinem Schicksal: Zwar war Khirdras ein Meistermagier, aber es gab genau eine Art von Zauber, die er niemals beherrscht hatte und auch niemals mehr beherrschen würde: Ein Zauberspruch, der einem dabei half, Ordnung zu halten.
„Dieser elende Drache“, schnaubte Khirdras, „Statt dass ich in der Sonne draußen bin bei meinen Pflanzen, muss ich mich hier im Kellergewölbe schinden. Und warum? Nur damit ich meine Erdbeeren vor seiner Gier schützen kann. Aber das wird er mir teuer bezahlen, das schwöre ich, so wahr ich Khirdras, der Meistermagier bin. Oh, was haben wir denn da...“
Aus einem Stapel alter Zauberumhänge zog er eine hölzerne Truhe, deren Schloss bereits durchgerostet war. Vorsichtig öffnete er sie und holte drei in Leder gebundene Folianten heraus.
„Da sind sie ja. Die gesammelten Zaubersprüche der berüchtigten Hexe Cruella de Firgh!“
Nur allzu gut erinnerte er sich noch an das magische Duell, das er mit ihr vor vielen Jahren ausgetragen hatte. Sie hatte ihn damals in eine tödliche Falle gelockt und das Duell entschied über Leben und Tod.
Als er sie schließlich besiegt hatte, hatte er alle ihre Zauberutensilien vernichtet, um die Welt vor ihrer bösen Magie zu schützen – nur diese drei Folianten hatte er aufbewahrt, als Trophäe sozusagen.
Behutsam blätterte er durch die brüchigen Seiten und tatsächlich war ihm das Glück hold. Bereits im ersten Buch in einem der ersten Kapitel hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte.

„So, mein geschuppter, gieriger Freund!“ rief Khirdras und stürmte die Treppen hinauf in sein Arbeitszimmer. Vor ihm lag eine Menge Arbeit und er musste bis zur nächsten Vollmondnacht damit fertig sein - also in ein paar Stunden.

***

Das Gebräu blubberte graubraun vor sich hin, ab und an zerplatzte eine entstehende Blase.
Es stank buchstäblich zum Himmel.
Khirdras rümpfte die Nüstern und kratze nachdenklich seinen Hornansatz.
„Irgendwas stimmt da nicht. So kann ich das nicht auf das Feld ausbringen. Das stinkt wie Gülle und niemand würde sich den Erdbeeren auch nur nähern. So habe ich mir deren Schutz vor dem Drachen auch nicht vorgestellt“, murmelte das Alicorn und wandte sich erneut der aufgeschlagenen Seite mit dem Rezept zu.
Er las laut die einzelnen Zutaten vor:
„Schusternägel – sind drin. Fellhaare eines bei Vollmond mit einer Silberkugel erlegten Werwolfs – passt. Fünf Esslöffel Olivenöl – habe ich auch reingetan. Saft von einem Kilo katalonischer Orangen – auch drin. Nunja, nicht aus Katalonien, diese Orangen sind mir zu teuer. Aber die aus meinem eigenen Garten sollten es doch eigentlich auch tun... Acht Maß Drachenbannkugeln. Habe ich auch reingetan. Oh... ich habe die Erdbeeren vergessen. Gut, das ist schnell korrigiert.“
Khirdras nahm den Topf mit dem Trank vom Feuer und eilte hinaus in seinen Garten. Es war bereits später Nachmittag und er würde sich beeilen müssen: Der Trank musste ausgekühlt sein und dann mittels einer magischen Handspritze über dem Feld im silbernen Schein des Vollmondes ausgebracht werden. Zum Glück deutete alles auf einen wolkenlosen Nachthimmel hin.

Schlagartig nahm der Trank eine transparente Färbung an und auch der entsetzliche Gestank war verschwunden, als Khirdras die Erdbeeren in pürierter Form dem Gebräu hinzugefügt hatte.
Er wartete geduldig, bis der Trank soweit ausgekühlt war, dass er ihn in seine Gartenspritze – er hatte diese vor einigen Jahrzehnten von einem reisenden Magier im Morgenland für ein geringes Entgelt erworben – füllen konnte.

Immer wieder ging er im silbernen Mondlicht die einzelnen Reihen des Erdbeerfeldes entlang, hüllte jede einzelne Pflanze ein in dem feinen Sprühnebel. Dabei murmelte er wiederholt in einem monotonen Singsang die Worte Cambiate Ladronem Dragonem Fragole.
Wenn der diebische Drache sich noch einmal an seinen Erdbeeren gütlich tun wollte, würde dieser sein spezielles blaues Wunder erleben – oder sollte man besser sagen rotes Wunder?
Mit einem zufriedenen Grinsen brachte Khirdras noch den letzten Rest des Zaubertranks aus. Heute würde er endlich wieder in Ruhe schlafen können ohne befürchten zu müssen, dass der Drache seine Erdbeerpflanzungen noch einmal verwüsten würde. Sollte es der Drache dennoch versuchen, nun, man würde sehen...

***


[bald geht's weiter]
23  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Der Erdbeerdrache am: 28.Juli.2008, 20:20:14
„… und mit viel Getöse fuhr der Huf in sein Gekröse.
Somit die Moral von der Geschicht’: Wilde Hengste zähmt man nicht.“

„Der arme Ritter“, kicherte die junge Frau und lehnte ihren Kopf an die Schulter des fahrenden Sängers, der sorgfältig sein Instrument beiseite legte.
„Mir hat aber die andere Geschichte von seinem Kampf mit dem furchtbaren Drachen besser gefallen“, stellte die andere Frau fest und kuschelte sich ebenfalls an den fahrenden Künstler.

Zufrieden lächelnd lehnte er sich zurück und zog die beiden Mädchen mit sich.
Es war für ihn ein überaus erfolgreicher Tag gewesen. In dem Weiler hatte er als Entgelt für seine Darbietungen, einige Lieder, Balladen und Tratsch und Klatsch aus fernen Städten, seine Vorräte auffüllen können und zog nun weiter auf seiner Wanderschaft. Die beiden Schwestern waren ihm nachgelaufen und wollten bei einem vertraulichen Picknick noch eine kleine Zugabe haben.
„Nun“, lächelte er und strich der einen Frau eine blonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht, „das waren zwei Episoden aus dem viel besungenen Leben dieses edlen Recken. Natürlich werden nur die Heldentaten des Ritters Georg besungen, vor allem sein Sieg über den gewaltigen Lindwurm. Aber wie Ihr jetzt wisst, hatte er auch einige Fehlschläge einzustecken. Oder sollte ich sagen Tiefschläge?“
„Solange nicht Dein kleiner Ritter von einem Pferdehuf getroffen wurde“, kicherte die erste Maid und beugte sich nach vorne. Die Nachmittagssonne beschien ihren üppigen Busen.
Anzüglich lächelnd strich sie mit zarter Hand über sein Beinkleid aus dünnem Stoff, während das andere Mädchen kichernd die verspannten Muskeln des Barden massierte.
Auch sie hatte einiges zu bieten und ihre prallen Brüste sprengten beinahe das schon ein wenig abgetragene Mieder.
„Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, war noch alles in bester Ordnung“, grinste der Sänger und überließ sich nun ganz den geschickten Händen seiner Bewunderinnen. Schon bald bedeckte nur noch ein dünnes Hemd seine Männlichkeit, die deutlich sichtbar nach einer bestimmten Form der Zuwendung verlangte.
Das war das Schöne am Leben eines fahrenden Sängers. Zwar war er die meiste Zeit auf staubigen Straßen unterwegs und musste oft mit leerem Magen sein müdes Haupt zur Ruhe betten, aber dafür ergab es sich immer wieder, dass man von verbotenen Früchten naschen konnte.

Es dauerte nicht lange und gedämpfte Geräusche von Lust und Leidenschaft vermischten sich mit dem Surren von Insektenflügeln und dem allgegenwärtigen Vogelgezwitscher.
Niemand achtete auf den Punkt hoch oben im wolkenfreien Himmel, der ein großer Vogel hätte sein können, der seine Kreise zog, und weder Barde noch Mädchen kamen auf die Idee, dass ihre Unterhaltung belauscht und ihr Treiben beobachtet worden waren.

„Gekröse? Was mag das sein? Gekröse – dieses Menschenwort habe ich noch nie gehört?“
Das prachtvolle Geschöpf, das am Himmel seine Kreise zog, verlagerte sein Gewicht nach vorne und suchte den Platz unter sich nach einer für die Landung geeigneten Stelle ab.
„Es ist sicherlich das Beste, wenn ich diesen Mann direkt befrage. Mit Sicherheit wird er mir Auskunft darüber geben. Oh, was machen die denn da?“

Die angsterfüllten Schreie der fliehenden Mädchen wurden durch das donnernde Rauschen schlagender Schwingen verschluckt.
„So wartet doch, ich tu Euch hübschen Maiden nichts, ich will diesem Mann doch nur eine Frage stellen“, rief das gewaltige Geschöpf, das gerade vor den Augen der entsetzten Menschen gelandet war.
Doch die beiden Mädchen waren, nackt wie sie gerade waren, bereits im Wald verschwunden.
„Was… wer… Hilfe!“
Der ebenfalls unbekleidete Barde war aufgesprungen und schlug mit zitternden Armen ein Kreuz. Im Gegensatz zu den beiden Mädchen hatte er die drohende Gefahr jedoch viel zu spät bemerkt.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich will Dir kein Leid zufügen. Ich wollte Dir nur eine einfache Frage stellen. Wenn ich Dich eben bei einer bestimmten Tätigkeit gestört haben sollte, bitte ich Dich um Verzeihung.“
Dem Drachen war selbstverständlich bereits der Geruch der Liebessäfte in seine empfindlichen Nüstern gestiegen und er tat sein Bestes, einen möglichst unschuldigen Gesichtsausdruck zur Schau zu stellen.
Der Barde errötete vor Scham und wagte es nicht, sich zu bewegen. Obwohl er nun völlig unbekleidet da stand, zitterte er mit Sicherheit nicht vor Kälte.
Vor ihm stand das prächtigste und wohl auch tödlichste Geschöpf, das man sich vorstellen konnte. Natürlich waren die Lieder und Geschichten, die er zum Besten gab, voll von Drachen und Drachentötern, doch hatte er nie zuvor ein solches Wesen gesehen.
„Ich… ich…“, mehr brachte er immer noch nicht hervor und der Drache blickte mitleidig auf ihn herab.
Sein gewaltiger Leib war von silbernen Schuppen ummantelt, seine Brust, sein Bauch und auch die Innenseite seiner Gliedmassen hingegen waren von einem dichten, cremefarbenen Fell bedeckt, durch das sich dunkelbraune Streifen, ähnlich denen eines Tigers, zogen.
„Oh, Du zitterst. Aber ich sehe schon, Dir ist kalt – hier!“
Mit einer spielerischen Bewegung seines Schweifes schob der Drache das Gewand, das achtlos zur Seite geworfen war im Rausch der Leidenschaft, dem Barden vor die Füße.
Den Drachen nicht aus den Augen lassend und weiterhin mit hochrotem Kopf, bückte sich der Sänger und schlüpfte eilig in die Hosen.
„Verzeih bitte, ich war unhöflich und habe mich noch nicht vorgestellt. Du kannst mich Greldon nennen“, fuhr der Drache mit der recht einseitigen Konversation fort. „Und ich habe die Ehre mit…?“
„A… Angelo Anselmo von der Fuchsheide“, brachte der Barde mit Mühe hervor.
„Ich werde Dich einfach Angelo nennen, wenn es Dir Recht ist“, erwiderte der Drache freundlich und setzte sich vor dem Menschen auf die kräftigen Hinterbeine. Seinen geschuppten Schweif schlang er sorgfältig um sie herum und brachte seine große Schnauze auf Augenhöhe mit dem Menschen.
„Wie gesagt, ich bitte Dich um Verzeihung, wenn ich Dich gestört haben sollte. Ich wollte Deine Paarung mit diesen hübschen Maiden nicht vorzeitig beenden.“
Das Gesicht des Sängers war nun dunkelrot vor Scham geworden.
„Das braucht Dir nicht peinlich sein. Wenngleich ich sagen muss, dass die Vereinigung von Euch Menschen, zumindest soweit ich das nun beobachten konnte, lange nicht so anmutig ist wie die von uns Drachen und die Größe Deiner Männlichkeit nicht einmal an die von Hengsten, von denen Du zuvor so schön gesungen hast, heranreicht. Könnt Ihr Menschen Euch wirklich vermehren auf diese Art und Weise? Aber egal, ich schweife ab. Ich wollte nur eines von Dir wissen: Was ist das Gekröse, von dem Du eben gesungen hast?“
„Wie bitte?“
Der Barde konnte es nicht glauben. Vor ihm saß ein leibhaftiger Drache, der ihn mit einem einzigen Schlag seiner Pranke zerquetschen mochte wie eine Laus und eine ganze Stadt mit dem legendären Feueratem dem Erdboden gleichmachen konnte, und dieser Drache fragte ihn, Angelo, den fahrenden Sänger, was das Wort Gekröse bedeutete.
Trotz seiner Angst konnte sich der Barde ein Lächeln nicht verkneifen: „Das ist nicht Euer Ernst, oder?“
„Wieso nicht?“ fragte Greldon ein wenig verletzt. Er hasste nichts mehr, als sich in irgendeiner Form zu blamieren und offensichtlich hatte er eine nach Menschenmaßstäben dumme Frage gestellt.
„Ich habe noch nie zuvor dieses Wort vernommen. Ist das eine Schande?“
„Nein! Nein, bitte macht Euch da keine Sorgen.“
Allmählich hatte Angelo seine Fassung wieder gewonnen. Sein Beruf als fahrender Sänger erforderte des Öfteren diplomatisches Geschick, da es immer wieder zu brenzligen Situationen kam. Eifersüchtige Ehemänner oder besorgte Väter, zum Beispiel. Oder Drachen, die nach Gekröse fragten.
„Es ist nur eine sehr ungewöhnliche Frage, aber ich kann Euch das gerne erläutern. Habt Ihr mein Lied über den Ritter Georg gehört?“
„Genau aus diesem Grund frage ich ja“, entgegnete der Drache und schnaubte seinen warmen Atem in das Gesicht des Sängers. „Wobei ich festhalten möchte, dass das Erschlagen von Drachen keine Heldentat ist, die es zu besingen gilt.“
„Nun ja, das ist aber das, was mein Publikum hören möchte“, rechtfertigte sich Angelo. „Die Menschen lieben Geschichten über wilde Kämpfe zwischen blutrünstigen Drachen und wackeren Rittern. Aber nun lasst mich erklären, was mit dem Begriff Gekr… - was schnüffelt Ihr, mit Verlaub, so ungebührlich an meiner Tasche herum?“
„Oh? Ungebührlich?“
Nun stand dem Drachen die Verlegenheit deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Mir stieg nur dieser herrliche, verführerische Duft in die Nüstern und ich fragte mich, von woher…“
„Welcher Duft? Ich bin ein fahrender Sänger und führe nichts von materiellem Wert bei mir. Zumindest kein Gold oder Geschmeide, also nichts, was für einen Drachen von Interesse sein könnte.“
„Was hast Du denn in Deinem Beutel?“
Greldon kümmerte sich im Augenblick nicht darum, dass seine Frage eben ausgesprochen unhöflich war.
„In meinem Beutel? Darin befindet sich nichts weiter als von mir gesammelte Walderdbeeren, die…“
„Erdbeeren!“ rief Greldon erfreut aus und trommelte mit seiner Schweifspitze auf den Boden.
„Meinst Du, Du könntest mich noch einmal… nur einmal daran schnuppern und vielleicht…“
Die Gier stand dem Drachen deutlich ins Gesicht geschrieben und der Barde fügte sich seinem Schicksal. Solange dieses Wesen nur seine Erdbeeren verspeisen wollte…
„Bedient Euch bitte, Herr Drache“, lud Angelo den Drachen ein.
„Ich danke Dir von Herzen. Und nun erkläre mir, was das Gekröse sein soll.“

***
24  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Der Erdbeerdrache am: 28.Juli.2008, 20:18:48
Der Erdbeerdrache



Durch das geöffnete Fenster drang fröhliches Vogelgezwitscher und die ersten Strahlen der Frühsommersonne liebkosten Khirdras Gesicht. Doch wurde diese friedliche Morgenidylle durch ein lautes Rauschen empfindlich gestört.
Khirdras war sofort hellwach und übellaunig sprang er aus dem Bett. Er erkannte dieses Geräusch und schon stieg ihm auch der charakteristische, schwere Geruch eines Drachens in die Nüstern.
Doch als er an das Fenster trat, sah er nur noch die gewaltige Drachensilhouette am Horizont verschwinden.
Zornig stapfte Khirdras auf und streckte seine Hände aus, von denen blaue Lichtbögen und kleine Feuerbälle sprangen.
„Du elender Dieb! Lass Dich bloß nicht noch einmal erwischen! Das sind meine Erdbeeren! Hast Du verstanden, Du missratene Kreatur? Meine Erdbeeren!“
Kopfschüttelnd wandte sich Khirdras ab und trat an den großen Spiegel, während er überlegte, in welche Robe er für diesen Tag schlüpfen wollte.
Wie alle Geschöpfe des Pferdegeschlechts war auch Khirdras ziemlich eitel, zumal es sich bei ihm nicht um ein schlichtes Einhorn, sondern um einen anthropomorphen, gehörnten Pegasus, im Volksmund auch Alicorn genannt, handelte.
Khirdras war eine beeindruckende Erscheinung: Sein Fell war von kräftiger brauner Färbung, seine seidige Mähne und auch seine Fesselbehaarung jedoch waren hellbraun wie Milchkaffee. Von gleicher Färbung war auch der Stirnstern aus dessen Mitte das einzelne, zur Spirale gewundene Elfenbeinhorn steil herausragte. Seine grüne Augen waren trotz fortgeschrittenen Alters immer noch tief und klar und die einzelnen Federn seiner prächtigen Schwingen, die von der Färbung und Musterung an Bussardschwingen erinnerten, saßen immer noch fest und in perfekter Ordnung.
Khirdras war Meistermagier und gehörte nach wie vor dem Magischen Zirkel an, doch hatte er schon seit einigen Jahren die praktische Magie aufgegeben, um sich ausschließlich seinem Hobby, der Gärtnerei, zu widmen.
Der prachtvolle Garten rund um sein Anwesen war sein ganzer Stolz und vor allem das große Erdbeerfeld, auf dem er nur die edelsten und kostbarsten Erdbeersorten anbaute, deren Wohlgeschmack landauf, landab legendär war, war sein Heiligtum.
Natürlich konnte Khirdras niemals so viele Früchte selbst verzehren, wie hier wuchsen und daher machte es ihm auch nicht das Geringste aus, wenn sich Kinder oder vereinzelte Wanderer, die es durch Zufall auf sein Grundstück verschlagen hatte, an den Erdbeeren und auch an dem anderen Obst, das er in seinem Garten anbaute, labten.
Doch im Falle des Drachens verhielt es sich anders. Während jeder bei der Erdbeerernte äußerst behutsam mit den Pflanzen umging, zumal jeder um deren enormen Wert wusste, richtete der Drache mit seinen gierig rupfenden Pranken und seinem vor Freude schlagendem Schweif einen großen Schaden auf dem Erdbeerfeld an.
Auch heute bot sich dem Alicorn erneut ein Bild der Verwüstung, als er in den Garten getreten war, um den vom Drachen angerichteten Schaden zu begutachten und – soweit möglich – mit einem kleinen Zauberspruch zu beheben.
Frustriert und wütend schnaubte Khirdras auf. Diese Arbeit würde ihn mindestens den ganzen Vormittag kosten und zum wiederholten Male fragte er sich, weshalb dieser Drache so versessen auf Erdbeeren war. Ausgerechnet Erdbeeren. Drachen sollten sich an Kühen gütlich tun oder an Pferden. Oder an Rittern und Jungfrauen! Aber doch nicht an Erdbeeren.
„So kann das nicht weitergehen“, knurrte Khirdras und machte sich eine geistige Notiz, nach getaner Gartenarbeit in seiner umfangreichen Bibliothek nach einer Schutzmöglichkeit für seine Erdbeeren zu suchen. Vielleicht würde er einen geeigneten Drachenabwehrzauber finden, denn selbstverständlich wollte er, dass für andere möglichen Gäste weiterhin ein freier Zugang zu seinen Erdbeeren gewährleistet war.

***

Die Thermiken waren äußerst günstig und dem Drachen genügten nur wenige, kraftvolle Flügelschläge, um geschwind wie ein Pfeil hoch in der Luft voranzukommen. Greldon war mit sich zufrieden, auch wenn es diesmal etwas knapper gewesen war als sonst. Diesmal hatte ihn offensichtlich der Zauberer, dem das herrliche Erdbeerfeld gehörte, gesehen und auch wenn der Drache nicht verstanden hatte, was genau ihm das Alicorn da nachgerufen hatte, die blauen Blitze, die nach seinem Drachenschweif gegriffen hatten, waren deutlich genug gewesen.
Ach, der alte Klepper soll sich nicht so anstellen, dachte sich Greldon und leckte sich die Lippen, immer noch den wunderbaren Geschmack von Erdbeeren in seinem Maul. Übermütig flog er ein großes Looping. Erdbeeren! Was gab es auf dieser Welt besseres als Erdbeeren – sah man einmal von seiner wunderbaren Gefährtin Auruliyuth ab.
Er liebte sie von ganzem Herzen und teilte mit der prachtvollen Erddrachin seine versteckte Höhle im Hochgebirge.
Das einzige Problem war, sie billigte seine Schwäche für Erdbeeren in keinster Weise. Ein ordentlicher Drache hatte dafür zu sorgen, dass sich in seiner Höhle Gold und wertvolles Geschmeide befand, nicht aber seine Kräfte für die Suche nach Erdbeeren zu verschwenden.
Daher behielt er seine regelmäßigen Ausflüge zu dem Erdbeerfeld für sich. Für Auruliyuth handelte es sich um tägliche Kontrollflüge, die ihr Gefährte unternahm, um das riesige Revier auf eventuelle Gefahren abzusuchen, denn in ihrem Leib trug sie die gemeinsame Frucht ihrer Liebe zueinander.
Um zumindest so zu tun, als ob er auf einem solchen Rundflug wäre, überflog Greldon einen kleinen Weiler und den dahinter anschließenden Wald, doch es gab keinerlei Anzeichen einer drohenden Gefahr. Kein Ritter oder Drachentöter war seiner Gefährtin oder ihm auf der Spur und die Menschen in diesem Weiler hatten sich mehr oder weniger an die Gegenwart der Drachen gewöhnt.
Instinktiv achteten Greldon und Auruliyuth stets darauf, jede Konfrontation mit den Menschen zu vermeiden und in der Regel hielten sie sich von ihnen und ihren Behausungen fern.
Doch nun drangen der Klang einer Laute und fröhliches Gekicher an sein empfindliches Drachengehör.

***
25  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Der Erdbeerdrache am: 28.Juli.2008, 20:16:35
Nach dem doch etwas ernsteren Blazestorm oder auch dem traurig endenden "Novembernächte" mal etwas Heiteres von mir, etwas, das zu den sommerlichen Sonnentagen paßt. Eine Story, in der ich mich selber ein wenig auf die Schippe nehme (und nicht nur mich!).

Ursprünglich ist die Idee einer kleinen Bierlaune bei einer Grillfeier entsprungen, bei der man mich ob meiner "Sucht" nach Erdbeeren gehänselt hat. Als man sich dann auch noch bereit erklärt hatte, Greldon als "Erdbeerdrachen" zu zeichnen, war klar, es muß eine Geschichte dazu her. Doch aus einer geplanten "schnell dahingeschriebenen wirklich kurzen" Kurzgeschichte ist ein ausgewachsenes Geschichtenprojekt geworden, zu dem ich Euch viel Vergnügen wünsche.
"Die Moritat vom Erdbeerdrachen" stammt von Khirdras.
Speziellen Dank für ihren Input gehen an (in alphabetischer Reihenfolge) Fuchur, Horsewolf, Khirdras, Smerb und Tylon.
26  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Blazestorm am: 01.Mai.2008, 08:48:10
Vielen Dank Euch *knuddel* und jenen, die für mich gevotet haben.
Das Buch selbst liegt derzeit bei einem Literaturmakler, der wollte mir nach Pfingsten Bescheid geben, ob ich damit Chancen habe bei einem "professionellen" Verlag.
27  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 14.April.2008, 22:31:26
Am Ende seiner Kräfte kämpfte er sich durch die Nacht, seinen toten Freund feste in seinem Griff. Seine eigenen Blessuren, die er sich bei der Rettung des Mädchens zugezogen hatte, spürte er nicht. Er spürte gar nichts mehr. Alles war einem dumpfen Gefühl der Leere gewichen.
Morghus Flügel wollten ihren Dienst verweigern, doch er riss sich zusammen. Er konnte nicht landen, er wollte nicht landen.
Wien hatte er mittlerweile weit hinter sich gelassen und in der Ferne sah er trotz der Nacht die Alpensilhouette. Dieser Anblick hatte etwas seltsam Tröstendes und er mobilisierte sämtliche Kraftreserven.
Er zwang sich zu einem stetigen Flügelschlag und dann schließlich lag sie unmittelbar vor ihm, jene schwarze, glatte halbmondförmige Fläche des Gewässers, die ihm signalisierte, endlich zu Hause zu sein.
Hier, in Oberösterreich, unweit des herrlichen Mondsees, hatte er viele Menschenjahre gelebt und hierher kehrte er nun als Drache zurück.
Er hielt auf das Südwestufer des Sees zu, an dem sich ein imposanter Berg erhob, die sagenumwobene Drachenwand. Hier würde er sein Revier einrichten und hier würde er seinen Freund zur ewigen Ruhe betten.
Ich werde der Legende neue Nahrung geben, dachte sich Morghus und sah sich nach einem geeigneten Landeplatz um.
Er war nun endgültig am Ende seine Kräfte angelangt: Nahezu die ganze Nacht war er durchgeflogen und die ganze Zeit hatte er seinen Freund getragen.

Die Sonne stand schon hoch am blassblauen Novemberhimmel, als der schwarze Drache endlich erwachte.
Trotz seiner bleiernen Müdigkeit hatte er nach der Landung den leblosen Körper Auryghors sorgsam auf das Gras gebettet und Totenwache gehalten, aber irgendwann hatte ihn dann doch noch der Schlaf übermannt.
Mit seiner Schwinge strich er zärtlich über den Rücken des goldenen Drachens.
„Ich werde Dich nicht vergessen, mein Freund.“

Morghus konnte sich an eine Drachengeschichte erinnern, die er damals als Mensch gelesen hatte. Daher hatte er eine genaue Vorstellung davon, auf welche Art und Weise er Auryghor die letzte Ehre erweisen würde.
Morghus streckte sich und spreizte seine verkrampften Flügel ein wenig. Er ließ seinen Blick umherschweifen und genoss einige Augenblicke den herrlichen Ausblick auf den Mondsee und den gegenüberliegenden Schafberg.
„Das hier hätte ich Dir so gerne gezeigt, Auryghor. Vor allem das.“
Gerade so als ob sein Freund neben ihm stehen würde, zeigte er auf eine große, lochartige Felsspalte.
„Das ist das sogenannte Drachenloch. Die Legende erzählt, dass einst ein gar furchteinflößender Drache die Pfarrersköchin raubte und mit ihr gegen die Drachenwand flog. So bekam die Drachenwand ihren Namen und ein Loch. Der Drache hauste in diesem Loch mit seiner Gefangenen, die unter anderem für ihn kochen musste, für viele Jahre“, sprach Morghus mit belegter Stimme weiter und schritt dann langsam zu dem Leichnam zurück.
Er nahm Auryghor wieder auf, so wie er ihn die ganze Nacht getragen hatte, und steuerte mit ihm auf das Drachenloch zu.
„Dieses Loch wird nun wieder von einem Drachen bewohnt werden, nämlich von Dir, für alle Zeit. Und niemand wird Dich jemals stören, vor allem niemand von dem Menschengezücht!“

Geschickt fixierte er Auryghors Körper in der Felsspalte mit Steinen, mit denen er auch die beiden Seiten des Loches verschloss.
Immer wieder überflog er die Drachenwand, kritisch sein Werk betrachtend, stopfte an Vorder- und Hinterseite die Ritzen mit Kiesel und kleineren Steinen.
Als er damit fertig war, flog er auf die Seite, an der sich der Kopf seines Freundes befand. Er holte tief Luft und blies seinen heißen Feueratem über die Vorderfront steinernen Mausoleums.
Die Steine fingen wie silbriger Tau an zu schimmern und wurden dann durchsichtig, durchzogen von glitzernden Reflektionen des Lichts.
Auf diese Weise versiegelte er auch die andere Seite.
Ähnlich wie Schneewittchen in ihrem gläsernen Sarg, dachte sich Morghus und Bitternis breitete sich erneut in seinem Herzen aus. Nur, dass das hier kein Märchen ist, sondern traurige Realität. Hier wird niemand kommen und Auryghor wach küssen. Ruhe in Frieden, mein Freund.

Morghus kehrte zu dem Gipfel der Drachenwand zurück, ließ sich auf seine Hinterbeine nieder, seinen Schweif ordentlich um sie herumgewickelt, und blickte hinüber zu dem silbrig glitzernden, nun für alle Zeiten bewohnten Drachenloch.
Als Echo hallte sein Abschiedsruf von den umliegenden Berggipfeln wider.



E-N-D-E
28  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 14.April.2008, 22:30:35
„Da vorne brennt etwas Großes, wie es scheint“, stellte Morghus fest und Auryghor nahm überrascht zur Kenntnis, dass sein Freund beschleunigte und geradewegs auf den Brand zuhielt.
„Morghus, was machst Du da? Wir sollten in einem großen Bogen drum herum fliegen.“
„Nein!“, keuchte Morghus, „Vielleicht können wir helfen!“
Auryghor hätte beinahe vergessen, mit den Flügeln zu schlagen.
„Helfen? Bist du noch zu retten? Wir fliehen vor den Menschen, die sich vor uns fürchten und die uns jagen. Wenn uns da jemand sieht, dann heißt es doch sofort wieder, dass wir Drachen das Feuer entfacht hätten. Nein, glaub mir, wir müssen hier schnell weg.“
„Still, ich höre was. Da schreit wer!“

Sogar in der Höhe, in der sie nun über dem Brandherd unbemerkt von den unten stehenden und helfenden Menschen kreisten, war die Hitze des Feuers noch deutlich zu spüren. Selbst wenn sie es wagen würden, tiefer zu gehen, so würde der Lärm ihres Flügelschlages sofort durch das rollende Donnern der Flammen verschluckt werden.
„In dem Haus muss irgendwas extrem Brennbares oder sogar Explosives gelagert worden sein“, vermutete Auryghor und Fernsehbilder aus längst vergangenen Menschentagen erschienen vor seinem geistigen Auge.
Doch Morghus schien ihn nicht zu hören.
In immer engeren Kreisen überflog er das brennende Haus und schließlich schnappte er die verzweifelten Rufe einer jungen Frau auf: „Mein Kind ist noch da drin!“
Morghus ließ sich ein wenig tiefer fallen und versuchte, durch den dicken, beißenden Qualm zu sehen.
Das Dachgebälk brannte lichterloh und an einer Stelle war bereits das Dach eingestürzt, auf diese Weise ein wenig den Blick auf das Innere der Flammenhölle freigebend.
Täuschte er sich, oder hatte sich da etwas bewegt?
Er gab Auryghor ein Zeichen und zusammen flogen sie nun tief über das brennende Gebäude hinweg. Keiner nahm die geringste Notiz von ihnen.
Auf der Straße standen mehrere Löschzüge, Drehleitern waren ausgefahren. Die Feuerwehrmänner versuchten verzweifelt, den Brand zu bändigen und ein Übergreifen der Flammen auf die benachbarten Gebäude zu verhindern.
Rettungskräfte verarzteten mehrere Leichtverletzte und ein Mann, der offensichtlich schwere Brandverletzungen davon getragen hatte, wurde gerade in einen Krankenwagen gehoben.

Ein leises Schluchzen drang an Morghus empfindliches Gehör und im gleichen Augenblick hörte er eine Stimme sagen: „Es tut mir leid, es ist zu gefährlich für meine Leute. Wir kommen mit den Leitern nicht näher ran und rein kommen wir auch nicht. Wer weiß, was sich da drin noch entzündet.

„Wir müssen das Kind da rausholen!“ rief Morghus und stieg mit kraftvollem Flügelschlag steil nach oben.
„Warte!“
Auryghor mühte sich verzweifelt ab, seinem Freund zu folgen.
„Wie willst Du das anstellen? Ich glaube nicht, dass unsere Schuppen aus Asbest sind.“
„Auryghor, verstehst Du denn nicht? Wir müssen das Kind da retten – und zwar sofort.“
Morghus hatte das Mädchen in dem Chaos erblickt. Es schien sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben oder es war einfach nur vor Angst erstarrt. Jedenfalls stand es reglos, etwas Weißes, Plüschiges an ihre Brust gepresst. Und sie blickte nach oben, dorthin, wo einst die Zimmerdecke und das Dach waren.
Auryghor gab keine Antwort, zumal ihm klar war, weshalb diese Angelegenheit so wichtig für seinen Freund war.
„Also, wir kommen im Sturzflug und ich ziehe das Kind da raus. Du machst mir den Weg frei und achtest auf irgendwelche herabstürzenden Teile. Alles klar? Dann los!“
Noch bevor Auryghor irgendwelche Einwände erheben konnte, hatte Morghus bereits seine Schwingen angelegt und schoss auf das Gebäude zu.
Unwillkürlich musste Auryghor nun an jenen Jungdrachen denken, der in einer alten Fernsehserie unbedingt ein Feuerwehrmann werden wollte.
Und ich bin Papa Fumé, der Dich da raushauen muss, dummer Grisù, dachte sich Auryghor grimmig und ging ebenfalls in den Sturzflug über.

Krachend donnerten brennende Balken zu Boden, Dachziegel splitterten und die Menschen stieben schreiend auseinander.
Eine animalische, goldene schimmernde Brachialgewalt hatte das das brennende Gebäude nahezu vollständig abgedeckt und todbringende, eisenstarke Klauen griffen nach Etwas, das sich nicht im Geringsten dagegen wehrte, hochgerissen und fortgeschleppt zu werden.
Auch wenn sich zwangsläufig Morghus Krallen in die Schultern des Mädchens gruben, so war er doch dabei äußerst behutsam. Doch besser diese Schrammen als bei lebendigem Leibe zu verbrennen – das musste sich auch das Mädchen denken, da es völlig reglos im festen Drachengriff hing und keinerlei Angst zu haben schien.
„Tapferes Kind“, keuchte Morghus heiser. „Gleich hast Du es hinter Dir, ich bringe Dich zu Deiner Mami.“

Das Mädchen zappelte auch nicht, als Morghus eine große Schleife flog und auf die Straße zuschoss.
Erneut schrieen die Menschen in Entsetzen und Furcht auf. Funken flogen und der Wind, den die schlagenden Schwingen verursachten, riss einige von ihren Füssen. Viele konnten nicht fassen, was sie im zuckenden Licht des brennenden Hauses zu sehen bekamen: Gleich einer apokalyptischen Vision von Hieronymus Bosch entstiegen dem Inferno zwei Geschöpfe des Chaos.
Das erste Wesen hielt ein Kind eng an seine rußverschmutzten, ehedem weißen Brustschuppen gepresst. Der Rest des Körpers war jedoch so schwarz wie die Nacht selbst. Das zweite Geschöpf schien dagegen aus flüssigem Gold zu sein. Beide wirkten riesig, bedrohlich für die Menschen, die nicht verstanden, was hier geschah.
Zitternd vor Erschöpfung stand Morghus unsicher auf seinen Hinterbeinen und flatterte etwas unbeholfen mit seinen mächtigen Schwingen, um das Gleichgewicht zu halten.
Hinter ihm stand Auryghor und blickte wachsam in die Runde.
„Ist noch wer in dem Gebäude?“ fragte er drängend und fügte hinzu. „Und mein Freund hat hier ein Kind, das sicherlich zu seiner Mutter möchte.“

Behutsam setzte Morghus das Mädchen ab und dieses schien nun endlich aus seiner Starre zu erwachen.
„Paulinchen! Oh mein Gott! Mein Paulinchen! Du lebst, ich bin ja so froh!“
Die junge Mutter war die Erste, die sich bewegte. Sie war auf ihr Kind zugestürmt und schloss es erleichtert in ihre Arme.
„Oh Paulinchen! Es tut mir so leid… Oh, mein Gott, ich bin ja so froh!
Dann fiel ihr Blick auf Morghus.
„Oh Gott… Sie sind, Ihr seid ja… Paulinchen hatte also doch Recht…“, stammelte sie.
„Ist noch wer im Gebäude?“ fragte Auryghor erneut und endlich meldete sich einer der Feuerwehrleute zu Wort: „Nein, außer dem Mädchen war niemand abgängig.“
Mittlerweile wurde immer mehr Leuten bewusst, was sich da eben vor ihren Augen abgespielt hatte.
„Mein Gott, Drachen!“ schrie auf einmal irgendjemand in der Menge.
Andere Leute griffen diesen Ruf auf und sie kamen langsam näher.
„Morghus, ich habe ein verdammt ungutes Gefühl“, sagte Auryghor leise. „Ich glaube, wir sollten verschwinden.“
„Ja, ich denke, Du hast Recht!“, antwortete Morghus und lockerte seine Schwingen. „Schau’n wir, dass wir hier wegkommen. Aber ich muss sagen, ich habe mir diesen Augenblick anders vorgestellt – was passiert den jetzt?“
„Die Drachen! Es waren die Drachen! Sie haben das Haus in Brand gesetzt und das Kind wollten sie holen, um es dem Leibhaftigen persönlich zu bringen!“
Schon flog der erste Stein und traf Morghus an der Schnauzenspitze. Mehr vor Überraschung denn vor Schmerz brüllte er auf.
Immer mehr Menschen hoben Steine auf oder griffen nach herumliegenden Gegenständen, die sie als Waffen verwenden konnten. Irgendwer steuerte zielstrebig auf den Antiquitätenladen zu, dessen Schaufenster durch die Explosion ebenfalls zu Bruch gegangen war.
„Sie wollten heute schon einmal meine Tochter entführen und haben stattdessen die Pferde erwischt“, kreischte eine hysterische Frauenstimme.
Die beiden Drachen waren wie vom Donner gerührt. Die Frau, deren Tochter sie gerade unter Einsatz ihres Lebens gerettet hatten, bezichtigte sie nun dieser Ungeheuerlichkeit.
Morghus starrte noch einige Augenblicke ungläubig in die Menge, die nun wie ein Lavastrom unaufhaltsam vorwärts wogte.
Das bittende, klagende Flehen eines kleinen Mädchens wurde vom rasenden Mob nicht wahrgenommen.
Schließlich stieß Morghus sich ab und konnte gerade noch mehreren Steinen ausweichen, die die Menschen nach ihnen warfen.
„Undankbares Menschengesindel!“ rief Auryghor zornig und folgte seinem Freund. Plötzlich brüllte er in Agonie.

Irgendjemand hatte gekonnt den Speer von der Ritterrüstung aus dem Trödelladen nach Auryghor geworfen und damit die Flugmembran seines linken Flügels durchbohrt. Weitere Geschosse folgten und trafen, aber sie richteten weiter keine nennenswerten Schäden an.
Doch dann schleuderte ein Feuerwehrmann einem inneren Impuls folgend die Axt, die er eigentlich zum Aufbrechen von Türen bei sich trug, nach den fliehenden Drachen.
Sie erreichte ihr Ziel mit grausamer Präzision und brach eine von Auryghors Flügelspeichen der noch unversehrten rechten Schwinge.
Auryghor schrie seine Qual heraus.
Morghus wandte sich um und musste entsetzt mit ansehen, wie der goldene Drache einige Augenblicke hilflos mit den nun unbrauchbar gewordenen Flügeln flatterte und schließlich abstürzte.
Augenblicklich machte er kehrt und schoss seinem Freund hinterher, um ihn an seinem Schweif zu packen und so vor dem Aufprall zu bewahren.
Doch er griff ins Leere und im gleichen Augenblick stürzte Auryghor schwer zu Boden. Das grausame Geräusch berstender Schuppen und brechender Knochen folgte unmittelbar dem dumpfen Aufprall.

Der Mob johlte in pervertierter Freude und noch bevor das letzte Licht aus Auryghors Augen erlosch, waren die Menschen über ihm, schlugen auf den Wehrlosen ein mit Stangen und Brettern. Auryghor brüllte dunkel und voll Schmerz, doch er konnte sich nicht bewegen. Bei dem Sturz hatte er sich das Rückgrat gebrochen.
Steine prasselten auf den niedergebrachten Drachen herunter und genau in diesem Augenblick vernahm Morghus die schwache, mentale Stimme seines Freundes: „Bitte, mein Freund, beende Du mein Leben. Ich werde diese Nacht nicht überleben, aber bitte vollbringe Du es, als mein Freund.“
„Halte durch, ich hole Dich daraus, Auryghor. Ich bin gleich da, alles wird gut.“
Doch ihm war klar, dass sein Freund unrettbar verloren war.
Aber keinesfalls würde er es dulden, dass Auryghor unter den Händen dieses elenden Packs sein Leben aushauchen würde.
Ihm zerriss es sein Herz, doch war dies das Einzige, was er für seinen Freund noch tun konnte, zumal dieser ihn darum gebeten hatte.
Gerade als sich ein Mann anschickte, dem sterbenden Drachen eine rot glühende Eisenstange durch das brechende Auge in das Gehirn zu treiben, sprang Morghus mitten in die Menge, sich nicht im Geringsten darum scherend, ob er jemanden unter seinem Gewicht zermalmte, ergriff mit seinen Tatzen den Kopf seines Freundes und rief: „Vergib mir, Auryghor, mein Freund. Vergib mir.“
Auryghors Genick brach sofort in diesem Griff. Ein erbostes Raunen ging durch die Menge, der auf diese Weise der letzte Triumph über die verhasste Kreatur vorenthalten wurde. Doch keiner der Menschen wagte es mehr, Morghus anzugreifen, als dieser mit dem leblosen Körper in die Dunkelheit entschwand.

***
29  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 14.April.2008, 22:29:49
„Paulinchen, hast Du Deine Sachen endlich gepackt? Jetzt leg endlich Deinen Zeichenblock weg, verdammt nochmal!“
Die Nerven der jungen Mutter lagen völlig blank, was kein Wunder war nach den Ereignissen zuerst im Museum und nun auch in der Wiener Innenstadt.
Sie hatte das sich sträubende Kind mit sich gezerrt und nun waren sie in ihrer Frühstückspension in einem der äußeren Bezirke Wiens.
Keine Minute länger wollte sie in dieser verrückten Stadt bleiben. Lieber mit dem Auto die ganze Nacht durchfahren, zur Not unterwegs irgendwo übernachten, aber hier hielten sie keine zehn Pferde mehr. Dem überraschten Pensionsinhaber, der in den Abendstunden immer persönlich an der Rezeption saß, erklärte sie den überstürzten Abreisewunsch mit einem familiären Notfall. Und in diesem Punkt hatte sie ja sogar gewissermaßen Recht.

Es gab nur sehr wenige Gästezimmer in dieser einfachen Pension, insgesamt fünf an der Zahl, und zwei davon waren unmittelbar unter dem Dach des vierstöckigen Altbaus. Neben einem jungen Paar aus Italien, welches das Nachbarzimmer belegte, waren sie jedoch die einzigen Gäste. Die anderen Räume in dem Dachgeschoss dienten alle, bis auf die große Kammer ganz vorne beim Aufzug, als Abstellräume und waren vollgestopft mit allerlei Gerümpel und alten Zeitungen.

„Ich will aber gar nicht weg“, maulte das Kind. „Und sie waren wunderschön.“
„Wer war wunderschön? Was malst Du da eigentlich die ganze Zeit?“
Sie brauchte eine ganze Weile, um das zu verarbeiten, was ihre Tochter zu Papier gebracht hatte. Wenngleich natürlich sehr kindlich, so war auf dem Bild doch eindeutig eine Art Hund zu erkennen, der allerdings einen Adlerkopf hatte. Er saß vor etwas, das an ein Saurierskelett erinnerte, nur dass dieses Flügel hatte.
Sie zog scharf die Luft ein, sage aber nichts und blätterte durch den Block. Immer wieder waren da Zeichnungen von diesem eigenartigen Geschöpf, doch ein anderes Bild verblüffte sie noch mehr: Es zeigte – und daran gab es keinen Zweifel – einen Drachen, das ein kleines Mädchen auf seinem Rücken trug.
„Das bin ich“, sagte das Kind stolz. „Das ist mein Freund aus dem Geschäft, wo auch Fuchur zu Hause war. Er hat mir immer zugezwinkert, wenn ich ihn angeschaut habe und ich glaube, dass er es war, zusammen mit einem anderen.“
„Hör jetzt auf, so einen Unfug zu reden!“ schrie die Mutter in einem hysterischen Anfall und riss die Blätter aus dem Zeichenblock.
„Es gibt keine Drachen und das im Museum war ein großer Vogel, der sich dorthin verirrt hatte. Weiter nichts!“
„Und wie es Drachen gibt“, erwiderte das Mädchen trotzig und fügte dann triumphierend hinzu: „Und hier im Haus ist doch auch einer. Der faucht schon seit gestern Abend ganz böse, wenn man vorbeigeht.“

Doch ihre Mutter hatte diese Bemerkung schon nicht mehr gehört; sie mühte sich mit ihrem Koffer ab und von der Tür rief sie über ihre Schulter zurück: „Ich bringe das schon mal ins Auto und werde unten bezahlen. Zigaretten brauche ich dann auch noch. Wenn ich zurück bin, hast Du endlich Deine Sachen gepackt, verstanden?“
Immer noch innerlich und äußerlich bebend knallte sie die Tür zu und hastete den engen Korridor entlang zu dem altmodischen Fahrstuhl. In ihren Taschen tastete sie verzweifelt nach Zigaretten, aber sie hatte sogar ihre eiserne Reserve aufgebraucht.
Aus einer geschlossenen Tür hörte sie ebenfalls deutlich das zischende Geräusch, das Paula als Drachenfauchen bezeichnete, und der Geruch von Alkohol lag schwer in der Luft.

Nicht ohne Stolz hatte ihnen der Inhaber der Pension an ihrem Ankunftstag die Anlage gezeigt, mit der er, selbstverständlich mit den erforderlichen Genehmigungen der Behörden, in kleinerem Umfang seinen eigenen Schnaps brannte. Um eine Belästigung der Nachbarn durch den Alkoholgeruch zu vermeiden, hatte er die Brennerei in einer großen, fensterlosen Kammer hier oben eingerichtet, nachdem er auch keinen geeigneten Kellerraum dafür zur Verfügung hatte.
„Die Anlage stammt noch aus den Dreißiger Jahren und wird mit Holz befeuert“, hatte er ihnen erklärt und dann lang und breit über den Destillationsvorgang doziert. Doch für Paula stand von Anfang fest, dass in diesem Kupferkessel ein Drache hauste, der eifersüchtig über den Schnaps wachte und jeden anfauchte, der auch nur in die Nähe kam, während die Mutter ihr Interesse ausschließlich auf den selbst produzierten Pflaumenbrand richtete.

Endlich kam rasselnd und quietschend der Aufzug, und der Pensionsinhaber trat heraus.
„Heans, gnä’ Frau, i hob d’ Rechnung scho herg’richt. Woin’s dann a Schnapserl mitnehmen, für den Herrn Gemahl daham?“
„Ja, warum eigentlich nicht“, nahm die junge Frau das Angebot an.
Sie schickte sich an, den schweren Koffer in den Aufzug zu wuchten, doch der Mann kam ihr zuvor: „Warten’s, lassen’s mi.“
Als sie nun ebenfalls in den Aufzug stieg, sagte er zu ihr: „I kumm dann glei.“
Er erklärte ihr noch, dass er rasch bei der Brennanlage nach dem Rechten sehen wollte, da er vor einer Woche das original Kühlsystem am Kessel durch ein anderes in Eigenregie ersetzt hatte, um auf diese Weise die Produktivität der Anlage zu steigern.
Doch die Aufzugtüren schlossen sich bereits und die junge Frau registrierte nur noch das Wort Schlangenkühler, was auch immer das sein mochte – nicht, dass sie das im Moment besonders interessiert hätte.

Ich hoffe bloß, der beeilt sich und fummelt da nicht zu lange rum, dachte sie sich auf dem Weg zu ihrem Auto.
Sie musste einige Schritte gehen, denn wie überall in Wien waren auch in dieser Straße, in der er es an Geschäften abgesehen von dem Trödelladen nur noch einen Waschsalon und eine Bäckerei gab, gebührenfreie Parkplätze Mangelware.

„Blöder Automat“, fluchte sie.
Seit gut zehn Minuten kämpfte sie mit den Tücken der Technik in Gestalt des Zigarettenautomatens am Ende der Straße. Sie hatte das Auto beladen und wollte sich eben noch mit Zigaretten eindecken. Münze um Münze hatte sie in den Schlitz gesteckt und nun klemmte das Ausgabefach.
Sie war so sehr in ihr Problem vertieft, dass sie die erste Explosion nur vage wahrnahm.
Doch einige Augenblicke später zerriss ein weiterer, noch viel lauterer Knall wie Donnerschlag die Vorstadtruhe und man hörte das Splittern von Glas, als diverse Fensterscheiben an Gebäuden und parkenden Fahrzeugen zu Bruch gingen.
Menschen liefen schreiend und rufend auf die Straße.
Entsetzt blickte sie in Richtung der Pension.
Dort, wo vor kurzem noch das mehrstöckige Wohnhaus stand, tobte nun ein Inferno.

„Gas!“ wurde gerufen, doch da kam ihr schon der Inhaber von der Pension entgegen. Er hatte schwere Brandverletzungen im Gesicht und am Oberkörper.
„Den Kessel hat’s z’rissen und dann… - ist Ihre Tochter net bei Ean…?“
„Paulinchen! Um Himmelswillen, nein, sie ist noch da drin, sie…“
Außer sich wollte die junge Frau zu der Flammenhölle laufen, doch einige Leute hielten sie fest.
„Sie können da nicht hin! Wer weiß, ob noch was in die Luft fliegt.“
„Aber, mein Kind!“
„Sans vernünftig, schaun’s, da kommt schon die Feuerwehr und dahinten die Kieberer.“
Der durchdringende Ton des Martinshorns durchschnitt den Lärm, den das Feuer und die meist unter Schock stehenden Menschen verursachten.
Zum Glück stand das Haus, in dem die Pension untergebracht war, aufgrund von Renovierungsarbeiten nahezu leer und die wenigen Anwohner waren entweder unterwegs oder konnten sich alle im Augenblick oder kurz vor der zweiten, größeren Explosion in Sicherheit bringen.

Aufgrund eines Lecks in den alten Kupferrohren der Brennanlage waren alkoholhaltige Dämpfe ausgetreten. Gleichzeitig war die neu installierte Kühlvorrichtung unterdimensioniert gewesen, so dass sich der Kessel überhitzte und es zu einer ersten Explosion kam. Dadurch wurden noch mehr Alkoholdämpfe freigesetzt und vermengten sich mit der Umgebungsluft, die auf diese Weise extrem leicht entflammbar wurde.
Der heiße, brennbare Kesselinhalt, der die Kesselwand hinablief, kam mit dem Feuer in Kontakt und beinahe im gleichen Augenblick gab es die zweite, verheerenden Explosion, die den Destillierraum völlig verwüstete und einen Brand auslöste, der sofort auf die benachbarten Räume übergriff. In den alten Holzmöbeln und dem gelagerten Altpapier fand das Feuer sehr rasch Nahrung und jetzt brannte der Dachstuhl lichterloh.

***
30  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 13.April.2008, 20:21:22
„Hui, des war ein Fetz!“ rief Morghus übermütig und drehte sich in einer Rolle um sich selbst, den leblosen Pferdekörper feste in seinen Tatzen haltend.
„Mein Gaul strampelt so und macht so einen Radau“, beklagte sich Auryghor, dessen gleichmäßige Flügelschläge ihn auf gleicher Höhe mit seinem Freund hielten.
„Auryghor, schau, Du hättest ihm gleich beim Hochheben so wie ich das Genick brechen sollen“, wurde der goldene Drache belehrt.
„Schön“, schnappte Auryghor. „Doch das hilft jetzt auch nicht weiter. Mir kommt das Vieh gleich aus. Wo fliegen wie überhaupt hin?“
Das Pferd im eisernen Klauengriff war außer sich vor Panik und wand sich verzweifelt in Auryghors scharfen Krallen, sich dabei nur noch mehr verletzend. Jedoch reichte keiner dieser Verletzungen aus, sein elendes Leben zu beenden.
„Ich kann das nicht mit ansehen. Vorsicht!“ knurrte Morghus und atmete tief ein.
Ein gut gezielter und exakt treffender Feuerball beendete das Leiden des Lipizzaners.
„So jetzt hast Du’s quasi halb und halb, also medium: Vorne durchgebraten, hinten roh!“

Morghus beschleunigte ein wenig und rief: „Heute siehst Du viel von Wien, Schloss Schönbrunn wollten wir ja auch noch besichtigen!“
„Wo willst Du denn da landen, da sind doch haufenweise Touristen?“
„Jetzt nicht mehr“, entgegnete Morghus. „Die Parkanlangen schließen in den Wintermonaten immer schon früher und es wird auch schon ganz langsam dunkel. Ich kann Dir nicht sagen, wie spät es ist, ich habe so gar kein Zeitgefühl als Drache, aber ich vermute, dass es so gegen Sechzehn Uhr ist. Da ist da draußen nichts mehr los. Da können wir in Ruhe unser Futter genießen und dann uns überlegen, was wir als nächstes anstellen.“
„Na, wenn da nicht mal halb Wien auf uns warten wird“, erwiderte Auryghor skeptisch. „Das war eben schon eine sehr tollkühne Aktion. Aber schon irgendwie cool.“
„Wer von uns wollte denn auf einmal Pferdefleisch haben und hätte sich beinahe einen Fiaker-Gaul mitten vom Stephansplatz geangelt? Ich geb’s ja zu, das war jetzt auch etwas leichtsinnig, aber ich bin sicher, die Menschen haben nicht mal erkannt, dass wir Drachen sind.“
„Ist es noch weit?“ keuchte Auryghor und beendete damit die kleine Zankerei.
„Siehst Du da vorne? Wir sind gleich da.“
In der Tat schälte sich aus dem tristen Grau in Grau der Umriss der Gloriette heraus, jenem prachtvollen Bauwerk, das den gesamten Schlosspark Schönbrunns überragte.
Sie kreisten einmal über das Gelände und vom Tierpark aus drangen die scharfen Gerüche der unterschiedlichen, dort gehaltenen Tiere an Auryghors Nüstern.
„Eigentlich hätten wir uns da auch in dem Tierpark bedienen können“, meinte er, als sie beide schließlich im nicht für die Öffentlichkeit zugänglichen südlichen Teil der Parkanlage, dem sogenannten Fasanengarten, auf einer freien Rasenfläche landeten.
„Stimmt“, erwiderte Morghus, als er genüsslich das linke Hinterbein mit seinen Zähnen von dem Pferdekadaver riss, so dass das Blut nur so spritzte.
„So ein Zebra oder eine Gazelle schmeckt bestimmt auch nicht schlecht. Können wir ja mal morgen kosten. Ignorant wie die Menschen sind, bekommen die das eh nicht mit. Und sollte wirklich einmal einer was bemerken, dann wird ihm wohl kaum jemand glauben.“
„Ja, schon.“
Auryghor kaute an der durchgerösteten Hälfte seines Pferdes.
„Du schaust so skeptisch“, bemerkte Morghus. „Was bedrückt Dich?“
„Ach, ich weiß nicht, ich habe so ein komisches Gefühl. Irgendwie ist mir nicht wohl bei dem Ganzen hier.“
Auryghor hatte aufgehört zu fressen und blickte seinen Freund an.
„Vor ein, zwei Tagen waren wir noch normale Menschen, dann werden wir zu Unrecht zu Kriminellen gestempelt durch die Wiener Polizei, verwandeln uns in Drachen, stoßen auf einen imaginären Gasometer, den man nur nach Harry Potter - Manier betreten und verlassen kann, lernen in ein paar Stunden fliegen, kollidieren um ein Haar mit einem Flugzeug, fliegen nach Wien und schnappen uns zwei Lipizzaner – und wurden damit wirklich zu Kriminellen.“
„Und was ist daran so verkehrt? Wir sind halt jetzt Drachen und somit haben wir auch die Bedürfnisse eines Drachens, Futter, Schlafen und das alles…“
„Das schon. Aber was mich so erschreckt ist, wie wir zum Beispiel uns gerade eben so dafür entschieden haben, mal morgen den Tierpark zu plündern. Ich meine, sind wir Drachen nicht edle Geschöpfe, die draußen in der Wildnis jagen? Jetzt habe ich das Gefühl, dass wir im Grunde verweichlicht und degeneriert sind. Opfer der Zivilisation, sozusagen.“
„Das mit dem Pferd war aber irgendwo Deine Idee. Aber von mir aus können wir auch gerne unser Glück in der sogenannten Wildnis versuchen, wenn Dir das lieber ist, Auryghor. Mir persönlich wäre das sogar viel lieber. Fort von dieser Stadt. In die Freiheit, zum Beispiel in die Berge. Das ist schon wahr, dort gehören wir wirklich hin!“
Morghus lächelte und machte sich wieder über seine Beute her.

Die Dunkelheit war schon längst über Wien hereingebrochen, als sich die beiden Freunde schwerfällig erhoben und streckten. Von ihrem Nachmittagssnack waren nicht viel mehr als die Hufe übrig geblieben.
„Vielleicht sollten wir jetzt zum Gasometer zurückfliegen, um uns dort nochmal richtig ausschlafen und uns dann Gedanken machen, wohin wir unser Jagdrevier verlegen wollen“, schlug Morghus vor.
„Ich fürchte, daraus wird nichts werden, meine Freunde.“
Ein schwarzer Schatten löste sich aus der Dunkelheit und beide Drachen konnten nicht sagen, ob und wie lange sie schon belauscht und beobachtet worden waren. An ihr empfindliches Gehör war nicht das geringste Geräusch gedrungen, das eine fremde Anwesenheit verraten hätte. Auch hatten sie trotz ihres ausgeprägten Geruchssinns keinerlei fremde Witterung aufgenommen.
„Du hier?“ fragte Morghus überrascht, der eindeutig das bessere Sehvermögen hatte und den Wolfsgreif erkannt hatte. „Ich dachte, wir würden Dich nicht mehr wieder sehen? Und warum können wir nicht mehr zurück?“
„Ich habe gesagt, dass ich nicht weiß, ob wir uns wieder sehen“, erklärte Lupino spitzfindig und zeigte auf Morghus Brust. „Du hast da noch zahlreiche Blutspritzer. Wie sieht das denn aus auf den weißen Schuppen. Jetzt im Dunkeln ist’s ja egal, doch morgen dann, im Hellen. Da fürchten sich die Menschen ja dann noch mehr vor Euch, wenn Ihr so blutverschmiert daher kommt, als sie es jetzt schon tun.“
„Moment mal“, schaltete sich nun Auryghor alarmiert ein. „Die Menschen fürchten uns?“
Lupino klickte mit seinem Schnabel und aus einer Kehle drang ein eigenartiges Geräusch, einem Kichern nicht unähnlich.
„Nun ja, seid mal ehrlich. Würdet Ihr Euch nicht ebenfalls fürchten an deren Stelle? Dieser Pilot und wahrscheinlich auch die paar Passagiere, die Euch gesehen haben, haben einen Schreck fürs Leben bekommen, das ist sicher. Und den Leuten, die sich eigentlich an völlig harmlosen Pferden erfreuen wollten, habt Ihr doch auch eine ziemlich spektakuläre Vorführung gegeben. Auch wenn ich sagen muss, dass Eure Darbietung mit Sicherheit spannender war als das, was man in der Spanischen Hofreitschule sonst so zu sehen bekommt. Und an Präzision und Geschicklichkeit steht ihr den Lipizzanern definitiv in Nichts nach. Ich hoffe, sie haben so lecker geschmeckt, wie sie aussehen?“
„Du, Du weißt von alledem?“ fragte Morghus ein wenig verlegen.
„Nun ja, wisst Ihr, das ist keine Kunst. Ganz Wien spricht über nichts anderes mehr. Und abgesehen davon muss ich gestehen, dass mich die Neugierde gepackt hat. Ich bin Euch gefolgt, seit Ihr den Gasometer verlassen habt.“
„Apropos. Du hast gesagt, wir können nicht mehr zum Gasometer zurück. Warum?“
„Nun, das würde viel zu weit gehen, das Euch bis ins Detail zu erläutern. So viel Zeit haben wir, das heißt, habt Ihr nicht mehr. Denn sie suchen schon fieberhaft nach Euch. Nur so viel, es hängt mit dem Zauber zusammen, der in und über diesem fünften Gasometer und der dazugehörigen Umgebung wirkt. Ich fürchte, damit müsst Ihr Euch zufrieden geben, meine Freunde. Nur ich selbst kann dorthin kommen und von dort wieder gehen, wie und wann und so oft es mir beliebt.“
„Na, prima“, seufzte Auryghor und schob die Frage, die nun unter seinen Krallen brannte, hinterher, obwohl er sich bereits die Antwort denken konnte: „Und wer ist auf der Suche nach uns?“
„Dreimal dürft Ihr raten. Die Polizei und das Bundesheer. Deshalb seid Ihr gut beraten, wenn Ihr so bald wie möglich, noch am besten in dieser Nacht, im Schutze der Dunkelheit, die Stadt verlasst. Warum lasst Ihr Euch nicht irgendwo in den Alpen nieder? Dort gibt es so viele entlegene Täler und außerdem genug Beute für Euch. Abgesehen davon haben Drachen einfach in irgendwelchen Höhlen im Gebirge zu hausen und nicht in Gasometern am Rande einer Großstadt.“
„Toll, immer diese Klischees über uns Drachen. Vielleicht auch noch unsere Höhlen gefüllt mit Gold und Geschmeide und dazu eine Jungfrau in unserer Gewalt, die für uns die Harfe schlägt und singt, wenn sie nicht gerade unsere Schuppen poliert?“ brummte Morghus und fügte grinsend hinzu: „Wobei ich für meinen Teil mir so ein Leben recht gut vorstellen könnte.“
„Weil Du gerade von Klischees sprichst. Wie es die Art der Menschen ist, lasten sie Euch auch den Großbrand von der Lagerhalle an. Zumindest diejenigen von ihnen, die sich sicher sind, dass es zwei Drachen waren, die die Lipizzaner massakriert haben und nicht ein oder zwei schwarz-goldene Adler.“
„Was für ein Großbrand? Wir haben nichts damit zu tun, Ehrenwort!“ rief Auryghor.
„Das habe ich auch nie behauptet. Abgesehen davon besteht kein Grund zur Aufregung: Es kam niemand zu schaden, und die Halle stand leer. Sie gehörte zu einem alten Fabrikgebäude und hätte abgerissen werden sollen, aber sie stand unter Denkmalschutz. So gesehen kam dieses Feuer wahrscheinlich Jemandem mehr als gelegen“, erwiderte Lupino und fügte augenzwinkernd hinzu: „Aber, seid Ihr ganz sicher, dass keiner von Euch zwei Hübschen mal seine Fähigkeit als Flammenwerfer oder vielleicht als Grill getestet hat? So ein kleines Feuerbällchen…“
„Ähem, ja, also…“, begann Morghus schuldbewusst.
„Sei ganz beruhigt. Das war mit Sicherheit nicht Auslöser für diesen Brand. Doch wie es der dumme Zufall so wollte, just in diesem Augenblick hatte jemand himmelwärts geblickt und ist mit dieser Beobachtung zur Polizei gegangen. Aber deswegen sage ich ja, dass Ihr Euch besser bald auf den Weg machen sollt, bevor noch irgendetwas Schlimmeres passiert, das man Euch dann ebenfalls zur Last legt, weil Drachen nun einmal in den Augen der Mensche böse sind. Außer Ihr wärt so asiatische Drachen. Dann würdet Ihr Opfergaben bekommen und jeder Chinarestaurantbesitzer würde Euch bitten, sein Lokal mit Eurer Anwesenheit zu ehren und zu verzieren.“

Doch während der Wolfsgreif sprach, wurde Auryghors Aufmerksamkeit abgelenkt. Er reckte seinen Hals und schnupperte in die Dunkelheit.
„Was ist?“ fragten Morghus und Lupino gleichzeitig.
„Still! Ich bin mir nicht sicher.“
Zur Sicherheit sprach Auryghor nun mental zu seinen Freunden.
„Ich dachte, ich habe etwas gehört. Stimmen. Irgendwer ist in der Nähe. Und dann, findet Ihr nicht, dass es plötzlich ziemlich intensiv nach Pferden und Kühen riecht?“
Morghus blähte seine Nüstern und schnupperte nun ebenfalls in die Luft.
„Du hast Recht. Und der Geruch kommt ganz sicher nicht aus dem Tierpark. Dafür ist er viel zu stark und intensiv. So, als würde er etwas überdecken…“
„Was sagt Ihr da?“ rief Lupino aus. „Oh, mein Gott, jetzt kapiere ich!“
„Was denn?“ fragte Morghus überflüssiger Weise, denn im Grunde seines Herzens wusste er nur allzu gut, was das zu bedeuten hatte.
„Eure Häscher sind da! Sie haben sich mit Pferdemist eingerieben, um den Menschengeruch zu übertünchen, damit sie sich Euch nähern können. Ihr müsst sofort los! Macht Euch um mich keine Gedanken, ich wünsche Euch alles Gute!“

Auryghor und Morghus warfen sich entsetzte Blicke zu. Der Wolfsgreif verschmolz mit der Dunkelheit der Nacht und die beiden Drachen verloren ebenfalls keine Zeit mehr.
Sie breiteten ihre Schwingen aus und stießen sich mit ihren Hinterbeinen kraftvoll ab.

„Halt! Keine Bewegung!“
Die befehlende, durch das Megaphon metallisch klingende Stimme halte durch die Nacht und verblüffte die beiden Drachen so sehr, dass ihr Absprung zu einem unbeholfenen Hopsen wurde, ähnlich den Startversuchen von Albatrossen.
„Was machen wir jetzt?“ fragte Auryghor mental.
„Ich habe keine Ahnung. Mal warten, was sie wollen.“
„Ich will besser nicht wissen, was die von uns wollen“, entgegnete Auryghor düster.
Der Platz, an dem sie sich befanden, war mit einem Schlag taghell erleuchtet und eine Gruppe schwer bewaffneter Soldaten trat aus der Dunkelheit.
Wie Lupino gesagt hatte, trugen sie Tarnanzüge und ihre freiliegenden Körperpartien waren dreckbeschmiert.
„So, gaanz ruhig bleiben.“
Der Mann mit dem Megaphon trat einen weiteren Schritt auf die beiden Drachen zu. Ihm stand, wie den übrigen Soldaten auch, die Angst ins Gesicht geschrieben und auch wenn er versuchte, seine gesamte Autorität in die Stimme zu legen, so war die Unsicherheit des Menschen nicht zu überhören.
„Wir wollen keinen Kampf mit Euch. Wir wollen gar nichts von Euch Menschen“, sagte Morghus unsicher.
Beinahe ein dutzend Maschinengewehre wurde im gleichen Augenblick auf die Drachen gerichtet.
Es war eine absurde Situation: Zwei Drachen mitten in Wien wurde von einer Gruppe Soldaten mit Feuerwaffen bedroht, aber keine der beiden Parteien hatte irgendeine Idee, wie es nun weitergehen sollte.
Morghus und Auryghor hatten nicht die geringste Ahnung, ob ihre Schuppenpanzer ihnen den gleichen Schutz boten wie den Menschen kugelsichere Westen. Auf alle Fälle konnten jedoch ihre Flügelmembrane zerstört werden im Kugelhagel. Würde es zu einem Kampf kommen, könnten sie sicherlich einige der Soldaten aus dem Weg räumen, doch zu welchem Preis, wenn sie selbst lebensgefährlich dabei verwundet würden? Außerdem war fraglich, ob nicht irgendwo eine weitere Einheit lauerte.
Auch die Soldaten waren sich ihrer Sache nicht sicher.
Unschädlichmachen des Feindes, lautete die Order. Doch niemand hatte ihnen sagen können, mit wem oder was sie es wirklich zu tun haben würden. Man hatte von extrem großen Raubvögeln gesprochen, das Gerede über Drachen hatte man von vorneherein als Unfug abgetan.
Man hatte sich auf eine Art Safari vorbereitet und sogar einige Experten vom Wiener Tierpark zu Rate gezogen.
Doch nun standen sie nicht nur einfach irgendwelchen zu groß geratenen Raubtieren gegenüber, sondern zwei leibhaftigen Drachen, die sie, zumindest wenn man den Legenden glaubte, mit ihren Höllenatem in Nullkommanichts zu einem Haufe Asche verwandeln konnten. Konnte man mit Maschinengewehren überhaupt etwas ausrichten gegen eine solche Bedrohung?
Den Soldaten stand der Schweiß auf der Stirn.
Die beiden Drachen bebten selbst am ganzen Leib, verspürten Todesangst.

„Wir stellen wirklich keine Gefahr für Euch dar“, wiederholte Auryghor die Worte seines Freundes und senkte seinen Kopf auf Augenhöhe des befehlhabenden Soldaten.
Damit nahm die Katastrophe ihren Lauf.
Ein Soldat, der unmittelbarer Nähe von Morghus stand, eröffnete das Feuer, abwechselnd mit seiner Waffe auf die beiden Drachen zielend.
„Feuer einstellen! Sofort! Um Gotteswillen!“
Doch der panikerfüllte Befehl des Anführers ging unter in zornigem Drachengebrüll.
In einer blitzschnellen Bewegung beugte sich Morghus nach vorne und ergriff den unglücklichen Soldaten, dessen Nerven durchgegangen waren.
Das Geräusch krachender Knochen war unnatürlich laut in den Ohren aller zu hören und sowohl die Menschen als auch Auryghor sahen entsetzt dabei zu, wie Morghus den Oberleib des brüllenden und zappelnden Mannes mit seinen Zähnen zermalmte. Blut spritze aus dem Maul und mit einer beinahe verächtlich wirkenden Kopfbewegung schleuderte der Drache die Körperhälften des Soldaten in dessen Kameraden, von denen einige durch die enorme Wucht umgeworfen wurden wie Kegel.
„Los, weg hier!“ rief Morghus.
Die beiden Drachen nutzen die Schrecksekunden der Soldaten und stießen sich kraftvoll mit ihren Hinterbeinen ab.
Versehentlich schnellte dabei Auryghors schuppenbewehrter Schweif wie eine Peitsche zur Seite und trennte einem anderen unglücklichen Soldaten, der sich zufällig in dessen Reichweite befunden hatte, beide Beine ab.
Mit kraftvollen Flügelschlägen schraubten sich Auryghor und Morghus himmelwärts, der Wind, den ihre Schwingen erzeugten, riss die Soldaten, die sich zum Teil bereits wieder gefasst hatten, von den Füssen.
Dennoch peitschten die Schüsse durch die Dunkelheit und weiße Mündungsfeuer blitzten auf. Doch keine einzige Kugel erreichte ihr Ziel.

„Wohin jetzt?“ keuchte Auryghor.
Als Morghus nicht sofort antwortete, befiel den goldenen Drachen Panik.
„Morghus! Alles in Ordnung, bist Du verletzt?“
„Nein, ich bin unverletzt“, antwortete Morghus zu Auryghors Erleichterung und schrie plötzlich in tiefstem Schmerz und Verzweiflung in die Nacht: „Ich habe einen Menschen getötet! Verdammt nochmal, ich habe wen umgebracht.“
„Das war Notwehr“, wollte Auryghor seinen Freund beschwichtigen, doch er schluckte die Antwort hinunter, wohl wissend, dass diese Worte nun mit Sicherheit keinen Trost spenden würden.
Also flogen beide schweigend dahin, in Richtung Alpen. Unter ihnen lagen immer noch die Randbezirke Wiens und die Lichter schimmerten zu ihnen herauf. Alles schien so ruhig und friedlich, nur vor ihnen glomm es rötlich.
Leichter Brandgeruch drang in ihre Nüstern, nur sehr schwach zunächst, doch mit jedem Flügelschlag wurde dieser intensiver.

***
31  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 13.April.2008, 20:20:33
„Gleich siehst Du all die schönen Pferdis“, sagte die Mutter zu ihrem Kind, das gar nicht schnell genug die Stufen von der U-Bahn-Station erklimmen konnte. „Lass Dir ruhig Zeit, Paulinchen, wir verpassen nichts.“
Es war der letzte Urlaubstag, den die Touristin aus Deutschland mit ihrer Tochter in Wien verbrachte. Nach all der Aufregung im Naturhistorischen Museum, den stundenlangen Befragungen durch die Behörden, in deren Verlauf sie immer mehr das Gefühl hatte, man würde sie nicht ernst nehmen, und den zum Teil impertinenten Reportern war sie beinahe froh, bald schon wieder in ihrer Heimat zu sein. Am meisten hatte sie sich über einen Zeitungsartikel geärgert, indem in aller Ausführlichkeit zu lesen war, dass ihre Tochter Paula einen gewaltigen, schwarz-goldenen Adler gesehen habe, der eine alte Frau angreifen wollte. Natürlich endete der Artikel in der Feststellung, dass solche wüsten Phantasien nur durch den Konsum von Computerspielen überhaupt genährt würden und dass es laut den einschlägigen Studien um die Qualität der Grundschulen im Nachbarland in Gegensatz zu Österreich gar schlecht bestellt sei.

Wie viele andere Leute um diese Zeit auch waren beide unterwegs zur Hofburg, um sich dort eine Vorführung der Spanischen Hofreitschule in dem barocken Ambiente anzusehen. Mit etwas Glück konnte Paula vielleicht noch vor der eigentlichen Darbietung sehen, wie die prachtvollen Lipizzanerhengste von den Stallungen in das Hauptgebäude geführt würden.

Da die Pferde eine Straße überqueren mussten, hatte man diese vorübergehend abgesperrt und eine Gasse gebildet aus rubinroten Seilen, die von messingfarbenen Stempen gehalten wurden, die in den Boden gesteckt werden konnten. Entlang dieser Absperrungen drängten sich nun die Schaulustigen, allen voran die Japaner, die versuchten, jeden Zentimeter des Übergangs mit ihren Kameras für die Nachwelt festzuhalten.
Das Mädchen nutzte den Vorteil ihres Alters und ihrer Größe, um sich zwischen den Wartenden hindurch zu drängeln, ihre Mutter im Schlepptau.
Sie mussten nicht lange warten und die Tore der Stallungen wurden geöffnet. Schon gleich darauf war Hufgetrappel und das leise Schnauben der Tiere zu hören, die sich auf den Weg in die Hofburg machten.
In diese Geräuschkulisse und dem Gemurmel und gelegentlichen Gelächter der sich drängenden Menschen schnitt die glockenhelle Kinderstimme wie ein Blitz:
„Mami, Mami, schau! Da oben sind zwei Drachen!“
Aufgeregt deutete das Mädchen nach oben.
„Paulinchen, nicht schon wieder!“
Nur mühsam konnte die Frau den Ärger in ihrer Stimme verbergen. Hatte das Kind mit seinen Aussagen nicht schon genug Durcheinander angerichtet? Freilich, in dem Museum war sie von dieser Rentnerin unterstützt worden, aber, mein Gott, schließlich weiß man doch, dass alte Leute alle irgendwo ein wenig wunderlich werden mit der Zeit…
„Aber Mami, sieh doch, da sind wirklich zwei Drachen, die kreisen wie Adler da oben und…“
„Kind, das reicht jetzt“, zischte die Frau wütend und errötete, als sich bereits einige Anwesenden nach ihnen umdrehten.
Einige schienen sie mitleidig anzublicken.
„Da schau, da kommen die Pferdis“, versuchte die Mutter die Aufmerksamkeit ihres Kindes von was auch immer abzulenken, als die ersten Hengste an ihnen vorbei geführt wurden. Anmutig waren sie, stolz und von einem strahlenden Weiß - einem Weiß, das urplötzlich von einem gewaltigen Schatten verdunkelt wurde.
Und dann ging alles blitzschnell.


Unter donnerndem Getöse wurden Menschen und zum Teil auch Pferde von ihren Füssen gerissen, Leute taumelten ineinander. In das tobenden Brausen, verursacht durch gewaltige, schlagende Schwingen, dröhnte glockengleich ein Schrei des Triumphes, der die Angstschreie der Menschen und das panikerfüllte Wiehern und Quietschen der Rösser kurzzeitig übertönte.
Pferde, die an sich perfekt dressieren waren, keilten aus und versuchten, genau wie die Zuschauer, zu entkommen.
Nur ein kleines Mädchen blieb wie ein Fels in der Brandung stehen, starrte fasziniert auf das Unfassbare, beobachtete, wie sich schwarze Klauen gleich der Schaufel eines Baggers in die Flanken eines der Hengste gruben und das entsetzt aufschreiende Tier kurzerhand in die Luft gehoben wurde.
„Paulinchen, komm da weg, um Himmels willen“, schrie die Mutter.
Doch das Kind ließ sich nicht wegzerren.
„Schau doch nur, wie schön sie sind“, sagte es mehr zu sich selbst und die junge Frau war sich zu ihrem Entsetzen sicher, dass ihr Paulinchen nicht die Pferde gemeint hatte.
Kurzerhand griff sie nach dem Kind und zog es mit sich fort, während ein weiterer Hengst gepackt und hochgehoben wurde.
In das ganze Tohuwabohu gellten die Sirenen von eiligst herbeigerufenen Polizeifahrzeugen und Krankenwagen.
Schwer bewaffnete Männer sprangen aus den Fahrzeugen und durch Megaphone wurden die Zivilisten zur Ruhe und Besonnenheit aufgerufen.

Nahezu unbemerkt brachte eine junge Frau ihre sich heftig sträubende Tochter, die immer wieder verzweifelt in den Himmel deutete und etwas von Drachen rief, aus dem Tumult in die Sicherheit der nächsten U-Bahn-Haltestelle.
„Kind“, erklärte sie zum wiederholten Male. „Es gibt keine Drachen. Hör auf Deine Mami. Wenn, dann waren das große Ader, wie die damals im Museum. Und nun fahren wir heim. Wir packen und dann fahren wir, einverstanden, Liebling?“
Sie redete immer noch auf ihre Tochter ein, als sie in die Bahn einstieg.
Oben auf der Straße hatte die Polizei relativ schnell wieder die Ordnung herstellen können und bis auf einige Blutspritzer am Asphalt und an den Wänden war nichts mehr zu sehen von den Geschehnissen. Wie durch ein Wunder gab es bis auf die beiden entführten Pferde keinerlei Tote und Verletzte, sah man von dem einen Japaner ab, der versehentlich beim Fotografieren des unglaublichen Vorfalls die Verschlusskappe seiner Kamera (er hatte die Kappe mit seinen Lippen gehalten, weil er beide Hände voll hatte, zum einen mit dem Fotoapparat und zum anderen mit einer Videokamera) verschluckt hatte.

Bereits in den Abendausgaben einiger Zeitungen war darüber zu lesen, der Österreichische Rundfunk schaltete Sondersendungen, allesamt mit dem Thema, dass geheimnisvolle Riesenvögel Wien attackiert hätten. Am Morgen des gleichen Tages sei es bereits am Flughafen Wien-Schwechat zu einer Sichtung dieser Ungeheuer gekommen, hieß es.

***
32  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 13.April.2008, 20:19:46
Ein gewaltiges Dröhnen empfing die beiden Drachen, gerade als sie die untere Schicht der Wolkendecke durchbrachen. Es drohte ihre Schädel zum Platzen zu bringen, so laut war es.
„Ach Du Sch…!“ schrie Morghus. „Pass auf, da ist ein Flugzeug, nach rechts abtauchen, sofort!“
Seine Stimme explodierte erneut in Auryghors Gehirn, doch selbstverständlich hatte er ebenfalls das Donnern der Flugzeugtriebwerke nur allzu deutlich gehört.
Mit verzweifelten Flügelschlägen kämpften sie gegen den todbringenden Sog der Düsen an und schossen nach unten.
Bitte, keine Blazestorm-Neuauflage, schoss es Auryghor in diesem Augenblick durch den Kopf. Damals, in einem anderen Leben, in seinem Leben als Mensch hatte er Geschichten geschrieben und eine handelte unter anderem von einer Kollision eines Flugzeuges mit einem Drachen.
Wie ein Orca, der sich auf der Jagd nach einer Robbe aus dem Ozean hievt, donnerte an ihnen der mächtige Körper des Aeroplans vorbei, abdrehend.
Auch wenn es zu keiner Kollision gekommen war, konnte sich Auryghor lebhaft vorstellen, wie sehr die Menschen in dem Flugzeug bei dem Ausweichmanöver durchgeschüttelt worden waren. Er dachte an sich, wie er selber als Mensch unter Flugangst gelitten hatte. So ein Ereignis wäre für ihn sicherlich Wasser auf seinen Mühlen gewesen.

„Wow, das war knapp.“
Die Morghus mentale Stimme klang ziemlich zittrig, als sie nun, endlich außerhalb der Wolkendecke, knapp über Felder und vereinzelte Baumgruppen hinwegflogen.
„Immerhin weiß ich aber, wo wir jetzt sind. Da vorne ist der Wiener Flughafen.“
„Vielleicht finden wir hier etwas zu futtern?“ schlug Auryghor vor und beide suchten mit ihrem scharfen Drachenblick die Gegend unter sich ab.
Doch so sehr sie auch ihre Blicke schweifen ließen, sie sahen kein Wild unter sich. Sie überflogen abgezäunte Weiden und Koppeln, doch die Landwirte hielten zu dieser Jahreszeit ihr Vieh fast ausschließlich in den Ställen.
„Das kann doch nicht wahr sein!“ rief Auryghor. „Irgendwas Essbares muss doch da für uns sein.“
„Sei mal still, ich muss mich konzentrieren.“
Morghus scharfe Augen hatten eine Bewegung unter sich ausgemacht.

Der junge Rehbock hatte nicht die geringste Chance gehabt, als sich der schwarze Drache wie aus dem Nichts einem Raubvogel gleich auf sein Opfer gestürzt hatte. Noch bevor das Tier wusste, wie ihm geschah, war dessen Nacken bereits gebrochen.
Bereitwillig ließ Morghus seinen Freund an dem bescheidenen Mahl teilhaben und gierig rissen sie mit ihren scharfen Zähnen blutige Fleischbrocken aus dem Kadaver.
Schon bald war bis auf das Gedärm, das beide aus einem instinktiven Abscheu heraus feinsäuberlich beiseite gelegt hatten, und dem Gehörn nichts mehr von ihrer Beute zu sehen.
„Naja, das war gerade mal ein Appetithappen“, stellte Morghus fest, als er sich sorgfältig mit seiner Zunge säuberte und seine Klauen im nassen Gras abwischte.
„Vielleicht finden wir ja nochmal was.“
Auryghors Stimme war voller Hoffnung.
„Aber ich bin beeindruckt, wie Du das Tier geschlagen hast.“
„Ach, das waren einfach meine Instinkte. Da habe ich nicht viel dazu getan. Gesehen, gestellt und gefressen – wie es eben Drachenart ist“, erklärte Morghus bescheiden, doch sein Stolz über seine erste, so erfolgreich verlaufene Jagd, war kaum zu überhören.
Leicht verlegen erhob er sich.
„Wollen wir ein wenig weiterfliegen und uns umsehen? Ich könnte Dir Wien von oben zeigen, wenn wir uns immer knapp unter der Wolkendecke halten…“
Auryghor zögerte ein wenig.
„Ich weiß nicht so recht. Vorhin das mit dem Flugzeug, das war schon verdammt knapp. Meinst Du nicht, dass wir den Luftraum gefährden?“
„Wie meinst Du das?“ fragte Morghus. „Vögel fliegen doch auch in der Luft.“
„Naja, aber wir wären dann schon besonders große Vögel, findest Du nicht? Und vor allem, ich könnte mir vorstellen, dass der Pilot von diesem Flugzeug uns auf dem Radarschirm hatte. Und wahrscheinlich auch die Flugsicherung. Wer weiß, am Ende sucht jetzt schon das ganze österreichische Bundesheer nach irgendwelchen UFOs oder so.“
„Ich verstehe. Du meinst in etwa so ein Szenario, das Du mal in einem Deiner Bücher beschrieben hast?“
„Genau, in Blazestorm. Außerdem hat uns Lupino gewarnt, dass uns nicht alle Menschen freundlich gesonnen sind.“
„Schon. Aber, was willst Du tun? Dich in den Gasometer auf ewig zurückziehen? Ich glaube außerdem kaum, dass wir da ewig drin wohnen können, zumal der Wolfsgreif doch irgendwie gemeint hat, dass er dort immer weitere Otherkins hinbringt, wenn ich ihn recht verstanden habe. Und ich habe keine Lust, mein Leben lang mich nur in irgendwelchen dunklen Erdlöchern herumzudrücken, wie lichtscheues Gesindel. Wir sind Drachen, was zumindest ich immer sein wollte, und ich will meine Flügel strecken können im Licht der Sonne, auch wenn diese sich gerade hinter diesen Regenwolken versteckt. Aber ich gebe Dir Recht, wir sollten vorsichtig sein. Ich denke mal, wenn wir nicht allzu hoch fliegen, müssten wir außer Reichweite vom Radar sein.“
„Dann könnten uns aber die Menschen ziemlich leicht sehen“, gab Auryghor zu bedenken.
„Sei mal ganz ehrlich: Würdest Du als Mensch glauben, was Du siehst, wenn auf einmal ein Drache vor Deiner Nase steht? Ganz ehrlich. Würdest Du nicht auch sagen, dass das eine Halluzination oder so ist? Lupino hat doch ganz klar gesagt, dass die meisten Menschen gar nicht mitbekommen, was sich vor ihren Augen abspielt. Die schieben dann alles aufs Wetter oder was weiß ich noch was alles. Und nun komm, da vorne ist ein kleiner Tümpel. Ich will was trinken.“

Als sie ihren Durst gestillt hatten an dem brackigen Wasser – Auryghor stellte fest, dass er selbst in Drachengestalt den Geschmack eines erfrischenden Weizenbieres bevorzugen würde – erhoben sich beide in die Luft, die Bedenken des goldenen Drachens zumindest halbwegs zerstreut. Nicht verflüchtigt hatte sich hingegen ihr Hungergefühl. Ein einzelner Rehbock war für zwei ausgewachsene Drachen einfach zu wenig…
Als sie sich der Stadtgrenze näherten, blieben sie dicht unter der Wolkendecke. Zwar hatte es immerhin zu regnen aufgehört, dennoch glänzten unter ihnen die Straßen und Dächer nass und der kalte Dunst griff unangenehm nach ihren Körpern. Ihre kräftigen Schwingen zerteilten Wolkenfetzen und Morghus hielt mit kräftigen Flügelschlägen auf die Stadtmitte zu.
Der Lärm der Stadt drang zu ihnen herauf: Autos hupten, das stählerne Rattern von Eisenbahnwaggons auf Schienen, aus einer Werkshalle drang metallenes Hämmern.
Unglaublich, wie halten die Menschen den Krach bloß aus, fragte sich Auryghor. Jetzt, mit den feinen Sinnen eines Drachens ausgestattet, war es für ihn völlig unvorstellbar, wie man in einer solchen Geräuschkulisse überhaupt leben konnte.
„Siehst Du den Steffel da vorne?“
Morghus mentale Stimme riss ihn abrupt aus seinen Überlegungen.
„Den was?“
„Den Stephansdom“, antwortete der schwarze Drache. „Da waren wir vor ein paar Tagen oben auf dem Turm, bei der Pummerin.“
Die bunten, in einem Zickzackmuster arrangierten Dachziegel funkelten regennass. Auf einer Seite des Daches waren aus den Dachziegeln die Wappen der Stadt Wien und Österreichs gebildet worden.
Die beiden Drachen umkreisten ein paar Mal das Bauwerk und wollten in Richtung Hofburg abdrehen, als Auryghor seine Schnauze in den Wind reckte und schnupperte.
„Riechst Du das? Das riecht wie… wie…“
„Das wird der Smog sein, was Du riechst, und die Kaminfeuer, die Leute heizen alle schon“, meinte Morghus.
„Nein, ich rieche etwas anderes. Es riecht so lecker nach… Pferd!“
Auryghor hatte unter sich die Fiakerpferde erspäht.
„Wäre das nichts für uns?“
Alle Vorsicht fahren lassend und sich über seine eigenen Bedenken, die er eben selbst noch gehabt hatte, hinwegsetzend, ging Auryghor in einen Sturzflug über, seine Klauen gierig ausgestreckt.
„Bist Du denn komplett übergeschnappt?“ rief Morghus und stürzte seinem Freund nach.
Gerade noch rechtzeitig bekam er seine Schweifspitze zu fassen und zog ihn zurück, etwas, das Auryghor mit einem lauten Fauchen quittierte. Doch langsam gewann seine Vernunft wieder Überhand über den plötzlich aufgeflammten Jagdtrieb.
„Du kannst Dich doch nicht einfach hier in aller Öffentlichkeit mitten am Tag auf irgendein Pferd stürzen, tadelte Morghus seinen Freund, während sich beide Drachen mit kräftigen Flügelschlägen wieder in den Himmel schraubten.
Die Menschen am Boden hatten freilich nichts von alledem bemerkt, nur einige Rösser, die in den Fiakern eingeschirrt waren, hatten nervös geschnaubt und mit ihren Hufen gescharrt. Ihnen war ein eigenartiger Geruch in die Nüstern gestiegen, der ihnen seltsam vertraut war - irgendwo tief in ihren Bewusstsein verwurzelt -, den sie aber bisher noch niemals gerochen hatten.
„Abgesehen davon, auch wenn viele Leute das nicht wahr haben wollen und gegen die Fiakerfahrer aus angeblichen Tierschutzgründen protestieren, die Fiaker gehören nun einmal zur Stadt Wien wie der Steffel oder die Sachertorte. Außerdem bestreiten die Kutscher damit ihren Lebensunterhalt. Es wäre also nicht fair, ihnen ihre Erwerbsgrundlage einfach so wegzufressen.“
„Aber…“, fügte Morghus versöhnlicher hinzu, „wenn Dir so sehr der Appetit nach Pferd steht und vielleicht nach einer kleinen Schelmerei, dann habe ich eine Idee. Denn das ist wirklich überflüssig, auch wenn es ebenfalls zu den Wiener Sehenswürdigkeiten zählt. Komm mit!“

***
33  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 10.April.2008, 17:49:00
„Auryghor! Auryghor! Komm, wach schon auf, Du Schlafmütze. Ich hab Hunger, verdammt nochmal. Ich will hier raus!“
Die Stimme schien von irgendwo aus der Ferne zu kommen und der goldene Drache spürte auch kaum die leichten Püffe und das Rütteln durch seinen Freund. Nur allmählich öffneten sich seine Augen. Das ewige Dämmerlicht in dem Gasometer machte eine Zeitbestimmung unmöglich.
„Was ist denn? Ich habe gerade so schön getr…“, murrte Auryghor verschlafen.
Doch dann richtete er sich ruckartig auf.
„Bin ich eingeschlafen?“
„Eingeschlafen ist gut. Dein Geschnarche muss die gesamte Gasometer City aufgeschreckt haben. Mich hat’s jedenfalls aufgeweckt“, brummte Morghus. „Schon lustig. Erst beschwerst Du Dich, dass Du Hunger hast, dann hast Du die Idee aufgebracht, dass wie hierher kommen, um von da aus gleich zur Jagd aufzubrechen – und dann legst Du Dich hin und pennst einfach. Naja, ich gebe zu, ich bin auch müde gewesen und auch gleich nach Dir eingeschlafen.“
„Wie lange haben wir denn geschlafen?“ gähnte Auryghor.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er durchaus noch länger in Morpheus Armen verweilen können. Schwerfällig erhob er sich und leckte sich die Lefzen. Er trottete an der Zylinderwand des Gasometers entlang, Morghus beobachtete ihn dabei.
„Ich weiß es nicht, ich habe überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Aber mein Bauch sagt mir, dass es höchste Jagdzeit ist.“
„Nicht nur das“, stellte Auryghor fest. „Trinken wäre auch nicht schlecht und dann gibt es auch noch andere Bedürfnisse, die es ratsam erscheinen lassen, den Gasometer zu verlassen.“
Morghus nickt und ließ seinen Blick über die massive Backsteinwand schweifen.
„Welchen Ausgang sollen wir nehmen, ich meine, wo sollen wir durch die Wand gehen?“ fragte er.
„Mir egal. Such Dir was aus.“
„Toll, und wenn es schief geht, dann bin ich schuld“, maulte Morghus.
„Was soll schon schief gehen? Ich glaube, es spielt keine Rolle, wo wir hier durchgehen.“
„Na schön. Dann sage ich mal: Da!“
Morghus war an die Mauer getreten und drückte mit seiner Schnauzenspitze dagegen. Tatsächlich drang sie ohne weiteres in die Wand ein. Der schwarze Drache trat beherzt vollständig hindurch – nur um dann erschrocken aufzuschreien, doch es war bereits zu spät.
Alarmiert, doch alle Vorsicht fahren lassend setzte Auryghor seinem Freund nach, sprang buchstäblich in die Wand und befand sich mit einem Mal im freien Fall.
Alles um ihn herum war in einem nahezu undurchdringlichen Grau, kalter Wasserdampf griff nach seinen Gliedmassen, seinen Schuppen, nach seinem Inneren.
Endlich konnte er ein Stückchen vor sich Morghus erkennen, der instinktiv seine Schwingen ausgebreitet hatte und nun wie ein gewaltiger Raubvogel in diesem dichten Dunst kreiste.
Er schien Auryghor etwas zuzurufen, doch er konnte nichts verstehen. Sein Gehör fing nichts anderes auf als ein tosendes Brausen und in seiner Panik bemerkte er zunächst nicht, dass seine Instinkte bereits das Kommando über seinen Körper übernommen hatten.
Sein Flügelschlag war nach einigen Augenblicken des Sturzes gleichmäßig und er schloss zu seinem Freund auf.
„Wo sind wir?“ rief er Morghus zu, doch der Wind entriss ihm die Worte und er ahnte, dass ihn sein Freund nicht hören konnte.
Eine Wolke grellen Schmerzes explodierte in seinem Drachenschädel, als er die Stimme des schwarzen Drachens direkt in seinem Kopf vernahm.
„Ich glaube, dass sich Drachen während des Fliegens mental unterhalten müssen, wegen des Flugwinds. Versuche einfach, das, was Du mir sagen willst, zu denken!“
„Deshalb brauchst Du nicht so schreien!“ beklagte sich Auryghor denkend.
„’tschuldige, ich habe nicht gewusst, wie laut ich denken muss“, drückte Morghus sein Bedauern aus.
„Weißt Du, wo wir sind?“ fragte Auryghor.
„Nicht die Spur. Das hier ist jedenfalls eine dichte Wolkendecke, anscheinend regnet es. Komm, lass uns da durch tauchen, dann kann ich vielleicht feststellen, wo wir sind.“

Beide Drachen verlagerten ihr Gewicht nach vorne, um ihren Sinkflug durch die Wolken einzuleiten.

***

Gemächlich rollte das vollbesetzte Passagierflugzeug des Fluges OS7269 nach Berlin über die regennasse Piste des Flughafens Wien-Schwechat zu seiner freigegebenen Startposition. Die Bordcrew führte die letzten Sicherheitschecks und Abfragen durch. Sie würden trotz des schlechten Wetters pünktlich starten können und trotz der Regenfront über Wien sollte es ein ruhiger Flug werden, die Wetterprognosen für den Zielflughafen waren äußerst günstig.
Als die Starterlaubnis erteilt war, beschleunigte der erfahrene Flugkapitän seine Maschine und die Passagiere wurden tief in ihre Sitze gedrückt, während das Flugzeug steil himmelwärts stieg. Es schlingerte ein wenig aufgrund der Seitenwinde, doch war dies bei solchen Wetterverhältnissen völlig normal. Geräuschvoll wurde das Fahrwerk eingezogen, als die Besatzung einen Warnhinweis in ihrem Cockpit bekam.
Auf dem Radarschirm blinkten zwei Punkte. Offensichtlich befand sich der Jet auf direktem Kollisionskurs mit etwas, das groß genug war, um von dem Radarsystem erfasst zu werden.
„Verdammt, was ist das?“ rief der Kapitän.
„Keine Ahnung, vielleicht ein großer Vogelschwarm.“
Der Copilot hatte bereits Verbindung mit dem Tower aufgenommen.
„Wir haben es auch gesehen, drehen Sie unverzüglich nach Steuerbord ab, dann weiter auf die vorgegebene Flughöhe.“

***
[Fortsetzung folgt]
34  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 10.April.2008, 17:47:53
Sie wussten beide nicht, wie lange sie schon unterwegs waren und ihre Flügel begannen allmählich zu schmerzen. Doch sie schienen dem Gasometer, der so nahe wirkte, keinen Meter näher zu kommen. Unter ihnen zog sich der Wald dahin, der Nebel wurde dichter und die Dunkelheit nahm unerbittlich zu.
Morghus wollte gerade entmutigt vorschlagen, nach einer Landemöglichkeit zu suchen, als er überrascht erkannte, dass Auryghor offensichtlich seinerseits bereits intensiv nach einer solchen Ausschau hielt.
Der schwarze Drache fragte sich, ob dieser Fall von Gedankenübertragung Zufall war. Schließlich konnte es Auryghor ja auch nicht entgangen sein, dass ihre Erfolgsaussichten, was die Jagd nach Beute betraf, mit jedem Flügelschlag geringer wurden. Andererseits, vielleicht beherrschten Drachen wirklich die wortlose Kommunikation untereinander und wer weiß, ob sie nicht auch noch Gedanken lesen konnten. Bei passender Gelegenheit würde Morghus diesbezüglich einige Versuche anstellen…

In diesem Augenblick tat sich unter ihnen im Wald eine große Lichtung auf und beide Drachen landeten mehr oder weniger elegant zwischen den Bäumen.
„Sehr mysteriös, das Ganze!“ rief Auryghor.
„Der blöde Gasometer war doch da hinten.“
„Er ist es auch immer noch, ich kann die einzelnen Lichter daran durch die Bäume sehen. Luftlinie vielleicht ein oder zwei Kilometer“, antwortete Morghus und machte einige Schritte in den Wald hinein.
„Wirklich eigenartig. Andererseits passt das auch zu diesem Blendwerk.“
„Und was jetzt?“ grollte Auryghor. „Wenn das alles hier nur Blendwerk ist, dann ist am Ende unser Gasometer auch nur eine Illusion, oder?“
„In gewisser Weise ja. Hat doch Lupino auch gesagt. Aber es hilft alles nichts, wir müssen es versuchen. Und wenn wir mit Fliegen unser Ziel nicht erreichen, dann vielleicht per Pedes. Komm, da entlang!“
„Per… was? Du meinst, zu Fuß?“ knurrte Auryghor.
Er spürte, wie Übellaunigkeit von ihm Besitz ergriff. Er war hungrig und müde und vor allem erinnerte er sich an einen längeren Fußmarsch, der sie dann letztlich doch nicht ans Ziel gebracht hatte, sondern in diese Lage jetzt. Er konnte immer noch nicht sagen, ob das Drachendasein wirklich so viele Vorteile mit sich brachte. Schließlich waren solch großartigen Errungenschaften der Menschheit wie bequeme Autos oder Dönerbuden und Schnellrestaurants an jeder Straßenecke zumindest in den Städten durchaus nicht zu verachten.
„Nun komm schon“, rief Morghus aus dem Wald über seine Schulter zurück. „Oder willst Du hier… Autsch! Verflucht und zugenäht!“
„Morghus, was ist?“
Erschrocken setzte der goldene Drache Morghus in den Wald nach und hätte beinahe das Schicksal seines Freundes geteilt.
Unmittelbar vor ihnen erhob sich, massiv und gewaltig, eine Backsteinwand. Trotz des Zwielichts des Waldes in der zunehmenden Dämmerung schien diese ziegelrot zu glühen.
„Ganz schön hart, die Wand.“
Morghus rieb sich mit einer Pfote seine schmerzende Schnauze. Zum Glück war jedoch nichts Schlimmeres passiert als ein wenig verletzte Eitelkeit. Denn kein Drache kracht gerne irgendwo dagegen.
Auryghor bemühte sich redlich, ein Lachen zu unterdrücken und fragte stattdessen: „Willst Du nicht reingehen?“
„Wenn Du mir sagst, wo der Eingang ist, gerne!“, schnaubte Morghus ärgerlich. „Wahrscheinlich auf der anderen Seite, bei unserem Glück.“
„Wetten, dass nicht?“ hielt Auryghor dagegen.
„Wieso?“
„Ist doch ganz einfach. So wie wir heute aus dem Gasometer rausgekommen sind, werden wir wohl auch wieder hinein kommen“, erklärte der goldene Drache.
„Wenn Du meinst, aber vorhin war der Greif dabei. Und der scheint irgendwie magisch begabt zu sein.“
„Sind wir Drachen das nicht auch?“ gab Auryghor zurück und versuchte, zuversichtlicher zu klingen, als er es tatsächlich war.
„Also, wie kommen wir rein?“ fragte Morghus.
„Einfach nach dieser Harry Potter – Manier. Du weißt schon, Bahnsteig Dreizehn Dreiviertel, oder was das war. Einfach mit dem Kopf durch die Wand.“
Morghus schüttelte sich.
„Na dann, viel Spaß. Das kannst Du ja versuchen. Ich habe mir meine Schnauze schon angeschlagen, schon vergessen? Nein, ich laufe lieber um das ganze Ding herum und suche nach einem bequemeren Eingang, der eines Drachens würdig ist.“
„Wie Du meinst. Bis nachher dann, ich warte drinnen auf Dich.“
Ohne viel Aufhebens machte Auryghor einen Schritt auf die Wand zu und wurde buchstäblich in sie hineingezogen.
„Also schön!“ rief Morghus und tat es seinem Freund gleich.
„Siehst du, ist doch kein Problem“, empfing ihn Auryghor lächelnd, als er einige Sekunden später neben ihm im Gasometer stand.
„Fühlt sich nur ein wenig komisch an.“
„Ja, so wie wenn man durch Zuckerwatte greifen beziehungsweise gehen würde. Und was jetzt? Jetzt sind wir also wieder in unserem Gasometer. Wir wollten aber an sich etwas zwischen unsere Zähne bekommen.“
Auryghor durchschritt das zylindrische Innere in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis zu finden. Doch der Gasometer war leer.
„Selbst der Tunnel, aus dem wir hier reingekommen sind, ist nicht mehr da.“
Auryghors Stimme hallte dumpf in dem Zylinder.
Schließlich ließ sich der goldene Drache an einer Wand nieder.
„Lass und ein wenig ausruhen und nachdenken, ich muss das Ganze hier ohnehin erst einmal verdauen. Wenn mich nicht alles täuscht, dann waren wir vor vierundzwanzig Stunden noch ganz normale Erdenbürger auf zwei Beinen.“
Wortlos ließ sich Morghus neben seinem Freund nieder und lehnte sich an.
Nach wenigen Augenblicken waren beide – eng aneinander gekuschelt – eingeschlafen.

***
35  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 10.April.2008, 17:46:55
Jetzt, da Morghus auf die Stimme sensibilisiert war, konnte er sich auch im Gehen darauf konzentrieren.

Der Korridor schien sich in der Unendlichkeit zu verlaufen und die beiden Drachen hatten endgültig jedes Zeitgefühl verloren. Monotonie drang auf sie ein, wurde ihr Begleiter, so wie die Stimme in dem statischen Rauschen.
„Oh, ich habe eben etwas anderes gehört!“ rief Morghus aus.

Doch um den Wechsel einzuleiten
Gilt es Euch den Weg zu bereiten

„Toll!“ ätzte Auryghor.
„Nach Stunden ein neuer Satz, sogar eine Verheißung, nämlich auf noch mehr gekachelten Tunnel, oder wie darf man das verstehen?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Morghus und blieb stehen.
„Aber vielleicht ist es auch unwichtig, denn hier vorne endet der Tunnel jedenfalls, schau!“

Tatsächlich wurde der Tunnel nun breiter und schien in eine große Kammer zu führen, in dem ein diffuses Zwielicht herrschte.
„Hallo?“ rief Morghus und seine kraftvolle Stimme wurde augenblicklich als Echo zurückgeworfen.
Vorsichtig nach allen Seiten sichernd traten die beiden Drachen in den Raum.
Er war rund, von gewaltigem Durchmesser und er schien keine Decke zu haben. Sie befanden sich inmitten eines großen Zylinders.
Morghus machte einige Schritte entlang der Wand, massive, rote Backsteine.
„Weißt Du was? Ich glaube, ich weiß wo wir sind. Wir sind in einem der Gasometer, in Wien-Simmering. Da gab es vier intakte Gasometer, aber die wurden alle in den letzten Jahren umgebaut und da ist mittlerweile ein eigener Stadtteil daraus geworden, mit Kino, Geschäften und Wohnungen, die Gasometer City. Vor einigen Jahren hat man in einem der damals noch leerstehenden Gasometer auch einige Szenen für einen James Bond - Film gedreht“, erklärte Morghus.

„Das stimmt auch beinahe alles, meine Freunde. Außer dass es sich insgesamt um fünf Gasometer handelt. Nur, die Menschen sind der festen Überzeugung, dass es lediglich vier sind. Auch gibt es keinerlei Aufzeichnungen über diesen fünften Gasometer. Das ist ganz gut so, denn ich schätze es nicht sonderlich, Menschen zu Besuch zu haben. Euch aber heiße ich herzlich willkommen bei mir.“
„Wer zum Teuf...“, begann Morghus und auch Auryghor blickte sich erschrocken um.
Wie konnte es sein, dass sie beide mit ihren neu gewonnen scharfen Sinnen nicht die Anwesenheit eines Fremden bemerkt hatten?
„Oh, da macht Euch mal keine Gedanken, Ihr konntet mich nicht wahrnehmen, das ist Teil meiner Tarnung.“
Ungefähr in der Mitte des Gasometers manifestierte sich scheinbar aus dem Nichts eine schwarze Gestalt. Sie schien geradezu dem Zwielicht zu entspringen.
„Dich kenn ich doch!“ entfuhr es Auryghor.
„Was? Woher kennst Du... wer oder was auch immer das ist?“ wollte Morghus erstaunt wissen, als das Wesen vor ihnen nun endgültig Gestalt annahm.
Es hatte die Größe und auch die Statur eines großen Schäferhundes, nur, dass der Kopf eher dem eines Raubvogels glich und dieses tintenschwarze Geschöpf gerade sorgfältig ein Paar golden glänzende Schwingen anlegte.
„Aus der Zeitung, die ich gestern gekauft habe. Da war eine Phantomzeichnung drin. Das ist dieser goldene Adler, den die Leute im Museum gesehen haben“, erklärte Auryghor.
„Er hat Recht“, sagte das seltsame Wesen leise. „Und ich bin auch gar nicht glücklich darüber, dass sich die Menschenwelt nun mit mir befasst. Aber ich war einfach übermütig und wollte meine Schwingen auch einmal im hellen Tageslicht erproben. Das könnt Ihr Euch übrigens gleich merken für die Zukunft: Sonne und Licht solltet Ihr eher meiden, weil Ihr da Gefahr läuft, von Menschen entdeckt zu werden. Und nicht alle Menschen lieben Drachen, genauso wenig, wie sie Einhörner unter sich dulden oder Greife. Andererseits braucht Ihr Euch in der Regel keine Sorgen machen, sollten Euch wirklich einmal Menschenaugen erblicken. Denn die Menschen neigen nur allzu häufig dazu, gar nicht zu erkennen, was sich genau vor ihrer Nase abspielt. Sie würden einen leibhaftigen Drachen für eine eigenartige Wolkenformation halten oder für schlichtweg für eine Halluzination, die was auch immer ausgelöst haben mag.“
„Und wer oder was bist Du eigentlich?“ wollte Morghus wissen.
„Oh, verzeiht, ich war unhöflich. Ich bin Lupino, ein Wolfsgreif“, stellte sich das Wesen mit einer leichten Verbeugung vor.
„Nun“, begann Morghus, „wir sind Aury...“
„Ja, ich weiß, Morghus und Auryghor. Ich habe Euch schon sehnsüchtig erwartet.“
„Du... Du kennst uns? Dann kannst Du uns vielleicht erklären, was passiert ist, weshalb haben wir jetzt die Gestalt von Drachen?“
„Das, meine Freunde ist eine lange Geschichte und ich würde Sie Euch erzählen, nachdem Ihr Euch gestärkt habt, Ihr musst doch hungrig sein, denn so eine Transformation belastet ja doch den Körper sehr.“
„Allerdings“, grollte Auryghor, aber die Aussicht auf eine Mahlzeit ließ alles in einem ganz anderen Licht erscheinen.
„Aber die Frage, weshalb Ihr jetzt die Gestalt eines Drachen habt, die ist schnell beantwortet. Ihr wart nie etwas anderes. Von dem Augenblick an, als Ihr das Licht dieser Welt erblickt habt, wart Ihr Drachen. Es ist in Euren Genen einprogrammiert gewesen, doch Ihr habt all die Jahre jeweils in einem falschen Körper gesteckt. Dennoch wart Ihr immer mit den anderen Drachen und auch anderen Wesen verbunden. Denkt nur an die ganzen Foren im Internet, in denen Ihr Euch getummelt habt, Eure Rollenspiele, Eure Conventions, die Ihr besucht habt. Das soll jetzt an Erklärungen genügen. Greift bitte tüchtig zu, niemand soll sagen, dass Lupino seine Gäste hungrig und durstig lässt.“

Der Wolfsgreif machte mit einer Pfote eine lässige Bewegung in der Luft und wie von Geisterhand erschien ein großer Tisch, der sich unter den herrlichsten Speisen und Getränken förmlich bog.

Als sich die beiden Drachen ordentlich gestärkt hatten und sich satt und zufrieden auf ihre Bäuche niedergelassen hatten, fragte Lupino:
„Ist Euch in letzter Zeit etwas aufgefallen in Eurem Alltag?“
„Nein, nichts bis auf den alltäglichen Wahnsinn. Naja, Auryghor meinte noch gestern, er hätte bei sich zu Hause einige Berichte gelesen und gesehen über... irgendwelche Sichtungen, die die Leute gemacht haben wollen.“
„Du meinst, solche Berichte wie über mich in den letzten Tagen?“
Lupino lächelte, soweit man bei einem Greif überhaupt von Lächeln sprechen konnte.
„Ja, es ist wahr, die Welt bevölkert sich langsam mit dem, was die Menschen als Fabelwesen bezeichnen und auch das, was sie nur vage als Magie kennen, wird in diesen Tagen immer gegenwärtiger.“
„Ja, das hörten wir auch bereits auf dem Weg hierher, in dem gekachelten Gang“, schaltete sich Auryghor ein. „Bist Du diese Stimme gewesen?“
„Nein.“ Lupino schüttelte den Kopf. „Wobei die Stimme auch ein interessantes Phänomen ist, denn in all den Jahren, die ich hier schon in diesem Gasometer lebe, habe ich nicht herausgefunden, von wem sie stammt. Und ich lebe hier schon seit vielen Jahren als Wolfsgreif. Ich kann es nur vermuten, aber ich bin wohl einer der ersten, die sozusagen erweckt worden sind. Seitdem unternehme ich immer wieder Streifzüge hier in der Gegend von Wien und halte Ausschau nach jemand wie Euch beide, also Wesen, die darauf warten, sich von ihrem ihnen aufgezwungenen Menschenkörper zu befreien. Überall auf der Welt geschieht zurzeit das, was mit Euch geschehen ist.“
Morghus erhob sich träge und spreizte seine Flügel ein wenig.
„Ich für meinen Teil bin damit sehr zufrieden“, sagte er und betrachtete zum wiederholten Male seine Schwingen.
Er war besonders angetan von den filigranen, dennoch sehr robusten Flügelknochen, die in scharfen, weißen Krallen endeten. Zudem hatte er auch noch eine starke Daumenkralle. Er bog die Flügel nach vorne, eine umarmende Geste. Das ist also dieses Winghugging, von dem man soviel gelesen hat, dachte er befriedigt und seine schwarzen Schuppen bekamen einen leicht rötlichen Schimmer, als er bemerkte, wie ihn Auryghor und Lupino anstarrten.
„Ähem, ja, nun...“, sagte er verlegen. „Also, Drachen oder Greife oder was auch immer kehren nun zurück auf diese Welt. Aber warum? Welche Rolle spielen wir?“
„Das kann ich Euch leider nicht so genau sagen“, räumte Lupino ein.
„Es geht jedenfalls auf keinen Fall darum, dass wir die Welt erobern wollen. Es ist viel mehr eine Art Ausgleich, würde ich sagen.“
„Ausgleich?“ bohrte Morghus nach.
„Alles auf dieser Welt befindet sich in einem gewissen Gleichgewicht, von etlichen Philosophen Harmonia Mundi genannt. Weiß benötigt Schwarz, ohne das Böse kann es das Gute nicht geben, bedenkt das Prinzip von Ying und Yang, die Polarität von Plus und Minus. Alles gleicht sich letztlich irgendwie aus. Auch die Menschen lebten in diesem Gleichgewicht und in früheren Kulturen war das Wissen um diese Harmonie fest verankert. Doch der Mensch des ausgehenden Zwanzigsten Jahrhunderts verlernte immer mehr, dieses Gleichgewicht wahrzunehmen, geschweige denn zu respektieren. Der Mensch sucht nun seine Harmonie in materiellen Dingen, für ihn ist nur noch das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht von Bedeutung. Dafür beutet er die Erde bis aufs Letzte aus, sei es, dass er nach Öl bohrt in den unwirtlichsten Gegenden dieser Welt, zum Beispiel im ewigen Eis, sei es, dass er rücksichtslos die Wälder in Amazonien rodet oder er die Meere leer fischt. Doch nicht nur die Natur beutet er aus, auch seine Mitmenschen. In der heutigen Gesellschaft sind Alte, Kranke und sozial Schwache nur noch ein Hindernis. Ich brauche Euch nicht mehr davon erzählen, Ihr habt es ja schließlich selbst Tag für Tag erleben können, wenn Ihr aufmerksam durchs Leben gegangen seid. Jedenfalls ist es nun soweit, dass der Mensch in seinem Wahn viele Dinge, die wichtig für die Harmonia Mundi wären, unwiederbringlich zerstört hat. Zahllose Pflanzen und Tiere sind für immer vom Antlitz dieser Erde verschwunden, so lange, bis die Natur selber keinen Ausgleich mehr schaffen konnte. Daher kommen nun wir ins Spiel.“
„Willst Du damit sagen“, erkundigte sich Auryghor, „dass immer wenn eine... reguläre Spezies ausstirbt, einer von uns die Gestalt zum Beispiel eines Drachens bekommt?“
„Natürlich nicht Eins zu Eins“, schränkte der Wolfsgreif seine Aussage ein. „Aber als zum Beispiel eine bestimmte Antilopenart – ich komme gerade nicht darauf, welche das war – ausgestorben ist, wurden die ersten Einhörner sozusagen erweckt. Ihr Drachen sollt wohl langfristig die Tiger ersetzen, deren Bestand sehr geschrumpft ist, der Sumatratiger ist bereits so gut wie vollständig ausgerottet.“
„Und was sollen wir nun tun?“ erkundigte sich Morghus.
Lupino raschelte mit seinen Schwingen, als er sich auf eine Seite des Gasometers zubewegte und kurz zu den beiden Drachen über seine Schulter zurückblickte.
„Lebt einfach. Und am Besten lernt erst einmal, als Drachen zu leben. Zwar habt Ihr Eure Dracheninstinkte, dennoch kann ich mir vorstellen, dass Ihr ein paar Lektionen zum Beispiel beim Fliegen und Jagen gebrauchen könnt, nachdem Ihr Euer bisheriges Leben lang in Menschenkörpern gesteckt habt. Nächtigen könnt Ihr, wenn Ihr wollt, hier in diesem Gasometer, ich werde Euch nicht weiter stören, ich werde mich wieder auf die Suche nach Weiteren wie Euch machen. Und nun kommt mit, ich will Euch etwas zeigen.“
Unmittelbar vor der gemauerten, massiven Wand blieb der Wolfsgreif stehen.
„Ihr habt sicherlich mal Harry Potter gelesen oder die Filme gesehen? Nun, hier ist es so ähnlich. Einfach an irgendeiner Stelle beherzt durchgehen, und wenn Ihr wieder reinwollt in den Gasometer, dann genauso. Aber achtet bitte darauf, dass Euch niemand beobachtet, wobei das doch eher unwahrscheinlich ist. Wie gesagt, Menschen bleibt so vieles verborgen, obwohl sich etwas direkt vor ihren Nasen abspielt.“

Mit diesen Worten glitt Lupino gleich einem Gespenst durch die Mauer und die beiden Drachen folgten ihm.
Sie hatten fest damit gerechnet, dass sie nun inmitten dieser Gasometer-City oder eventuell einem anderen Stadtteil Wiens herauskommen würden, doch auf diesen Anblick, der sich ihnen nun bot, waren sie nicht vorbereitet gewesen.
„Wo sind wir?“ fragte Morghus und ließ seinen Blick über das bewaldete Tal vor ihnen schweifen.
„In einem Teil des Wiener Waldes?“
Sie standen auf einem mittelgroßen Felsen, den man von der einen Seite bequem zu Fuß erklimmen konnte, auf der anderen Seite fiel dieser jedoch schroff ab. Die Felskante bildete somit einen idealen Startplatz für Drachen.
„Hier habt Ihr eine ideale Spielwiese für Eure Flugübungen. Lernt Euch und Eure Drachenkörper kennen. Hinterfragt nicht, was Ihr hier seht, das ist alles Teil eines uralten Zaubers. Jedenfalls seid Ihr noch im Wiener Stadtgebiet“, erklärte der Wolfsgreif.
„Und wenn Ihr zurückwollt in den Unterschlupf, dann müsst Ihr einfach dort hingehen.“
Lupino zeigte mit seiner Vorderpfote auf den Horizont, und tatsächlich, hinter dem Wald erhob sich die trutzige Silhouette des Gasometers.
„Jetzt zeigt mal, wie es um Eure Flugkünste bestellt ist.“
Auryghor und Morghus traten an die Kante und breiteten ihre Flügel aus. Keiner der beiden litt unter Höhenangst, dennoch hatten sie ein mulmiges Gefühl. Doch dann überließen sie sich ihrem Instinkt und stießen sich kraftvoll mit ihren Hinterbeinen von dem Felssims ab in der Absicht, eine günstige Thermik zu erwischen, auf der sie segeln konnten.
„Sehr schön!“ rief Lupino aus und fügte einige Sekunden später entsetzt und doch zugleich belustigt hinzu: „Ihr müsst mit den Flügeln schlagen - und nicht gegen die Tannen dort flie... Autsch! Auryghor, Morghus, geht es Euch gut?“
Amüsiert beobachtete der Wolfsgreif, wie die beiden Drachen etwas schwerfällig den Hügel hinauftrotteten und fragte sich, wie viele Bäume in den nächsten Stunden und Tagen von dem Aufprall eines Drachens gezeichnet sein würden.
„Mir geht es recht gut, mach Dir keine Sorgen um mich!“ rief Auryghor und Morghus nickte zustimmend.
„Wisst Ihr, es ist nicht so sinnvoll, einen Baum als Bremshilfe benutzen zu wollen.“
Lupino hatte versucht, seine Worte möglichst ernst und belehrend klingen zu lassen, doch das misslang ihm gründlich.
„Wir werden versuchen, diese wohlgemeinte Lektion zu beherzigen“, rief Auryghor gut gelaunt und stieß sich erneut ab, dicht gefolgt von seinem Freund.
Der zweite Versuch verlief schon erfolgreicher, da sie beide bei dem neuerlichen Absturz immerhin nicht mit irgendwelchen Bäumen kollidierten.
Der Wolfsgreif hatte nun ebenfalls seine Schwingen entfaltet, als die beiden Drachen etwas lädiert, aber nicht entmutigt erneut den Hügel erklommen.
„Ihr seht aus wie Laufenten, wenn Ihr so daher trottet“, spottete Lupino.
Doch bevor Morghus ihm erklären konnte, dass den beiden Drachen dieser Felsen als zu klein für eine gemeinsame Landung mit ausgebreiteten Flügeln dünkte, verabschiedete sich der Greif von ihnen:
„Ich verlasse Euch zwei Hübschen jetzt. Ich weiß nicht, ob wir uns wiedersehen, daher will ich Euch noch etwas mit auf den Weg geben: Obwohl es etliche Menschen gibt, die die gegenwärtige Entwicklung, die Rückkehr von Drachen, Einhörnern und dergleichen auf diese Welt, begrüßen, so wird Euch doch die Mehrheit eher mit Angst und Ablehnung, vielleicht sogar mit Hass begegnen. Daher hütet Euch vor den Menschen, vermeidet den Kontakt zu ihnen. Am Besten sucht Ihr Euch ein Rückzugsgebiet, zum Beispiel in den Alpen oder wo auch immer. Lebt wohl meine Freunde und lebt Euer Leben als Drachen, wie es Euer Naturell ist.“
Lupino warf ihnen einen letzten Blick aus seinen bernsteinfarbenen Augen zu, lief ein paar Schritte zu dem Sims und schwang sich in die Luft.
Er umkreiste die Drachen einmal und schraubte sich dann empor wie ein großer, schwarz-goldener Raubvogel. Von einem Augenblick auf den anderen war er spurlos in den blauen Weiten des Himmels verschwunden.

„Und, was machen wir jetzt?“ fragte Auryghor, ein wenig verunsichert.
Zu viele Dinge hätte er noch wissen wollen, doch es war fraglich, ob sie Lupino je wieder sehen würden.
„Na, was schon“, erwiderte Morghus. „Ändern können wir an unserer Lage eh nichts mehr, lass uns weiter üben.“
Diesmal wirkte sein Abflug schon wesentlich eleganter und er hatte das Glück, eine besonders günstige Luftströmung zu erwischen. Er ließ sich von ihr tragen, seine Flügel soweit gespreizt wie nur möglich. Morghus ließ ein donnerndes Brüllen ertönen – aus purer Lust am Leben – als er auf der Thermik ritt wie ein Segelflugzeug.
Auryghor war ihm unmittelbar gefolgt und geriet seinem Freund nun bedenklich nahe.
Es kam schließlich, wie es kommen musste, ihre Flügel streiften einander und in einem wilden Knäuel aus schlagenden Schwingen, rudernden Schweifen und zuckenden Gliedmaßen stürzten sie dem Boden entgegen.
Ihre recht unsanfte Landung wurde glücklicherweise durch hohe Brombeerbüsche gebremst und abgefedert, die wild am Waldesrand wucherten.
Die zahlreichen Dornen und spitzen Zweige konnten jedoch zum Glück die Drachenschuppen nicht durchdringen und auch die ledernen Membranen der Drachenflügel wurden nicht in Mitleidenschaft gezogen.
Ächzend und stöhnend mit zuckenden Flügeln arbeiteten sich die beiden Freunde aus den Ranken und befreiten sich von dem Gestrüpp.
„Tut mir leid, dass ich in Dich reingekracht bin“, sagte Auryghor, der sich als Erster befreit hatte, zerknirscht. „Hast Du Dir wehgetan?“
Der goldene Drache schüttelte seine Schwingen.
„Hey, pass doch auf…“
„Was denn? Ich hab mich doch gerade bei Dir entschuldigt.“
„Ja, aber mit Deinen Flügeln sollst Du aufpassen“, brummte Morghus und schnappte spielerisch nach Auryghors Schweif. „Und damit auch.“
Die Kiefer des schwarzen Drachens klappten geräuschvoll zusammen, Auryghor hatte seine Schwanzspitze gerade noch in Sicherheit gebracht.
„Ätsch! Da musste Du schon schneller sein!“ rief er triumphierend.
„Ach ja, meinst Du?“
Kurz darauf balgten beide übermütig herum, bis ein deutlich vernehmbares Grummeln in Auryghors Bauch ihre Gedanken auf etwas anderes lenkte.

„Was war das?“ fragte Morghus, doch konnte er sich die Antwort bereits denken.
„Ich denke mal, mein Magen. Fliegen macht doch ziemlich hungrig“, antwortete Auryghor.
Sie rappelten sich beide auf und blickten sich um.
Nebel zog langsam auf und es begann auch schon zu dunkeln.
„Vielleicht finden wir hier gute Beute“, meinte der goldene Drache und lockerte seine Schwingen.
„Vielleicht!“
Mit kraftvollen Sprüngen stießen sich die beiden vom weichen Boden ab und ihre ledernen Schwingen trugen sie himmelwärts.

Doch so sehr sie auch die Landschaft unter sich mit ihrem scharfen Drachenblick absuchten, sie fanden nichts, was als Beute geeignet gewesen wäre, kein Reh, nicht einmal einen Hasen.
In stiller Übereinkunft gaben beide entmutigt auf und als beide schließlich wieder den Erdboden unter ihren Tatzen hatten, diskutierten sie ihren Misserfolg.
„Was nun? Ich denke mal, dass dieses Tal hier keine Beutetiere für uns bereithält, weil das Ganze hier um uns herum doch nur eine Art Illusion ist“, begann Morghus.
„Was meinst Du damit?“
„Erinnerst Du Dich, was der Greif uns gesagt hat, als wir aus dem Gasometer herausgekommen sind? Dass das alles Teil eines uralten Zaubers ist, der den Menschenaugen jedoch verborgen bleibt. Und ich könnte mir vorstellen, dass wir hier nichts finden, weil wir von hier fort müssen. Wir haben unsere ersten Flugerfahrungen gemacht und dabei unsere Körper ausgelotet, vielleicht folgt nun der nächste Schritt in unserem Drachendasein.“
„Aber er hat doch auch gesagt, dass wir hier unsere ersten Jagderfahrungen sammeln sollen, oder täusche ich mich da? Wie auch immer, vielleicht wäre es sinnvoll, in den Gasometer zurückzukehren. Eventuell liegt dort der Schlüssel für das Ganze. Vielleicht bringt uns der Gasometer dann, wenn wir ihn erneut verlassen, irgendwohin, wo es Futter für uns gibt“, überlegte Auryghor laut.
„Das kann ich mir durchaus vorstellen“, stimmte Morghus zu und deutete mit seiner Flügelspitze in eine bestimmte Richtung.
„Dort hinten ist unser Gasometer, es ist nicht weit. Lass uns dorthin fliegen.“

***
36  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 10.April.2008, 17:45:54
„Morghus! Morghus, hörst Du mich? Ist alles in Ordnung bei Dir?“
Es dauerte seine Zeit, bis die Worte sich ihren Weg in sein Bewusstsein bahnten.
Morghus öffnete mühsam seine Augen. Er war umgeben von Licht, einem kalten, unnatürlichen Licht und er lag auf etwas Hartem, Unbequemen.
Ein seltsamer, schleifender Laut drang an seine Ohren, als ob ein schwerer Körper über einen gefliesten Boden gezogen wurde.
„Morghus! Gott sei Dank Du lebst. Erschreck’ jetzt nicht. Du hast offensichtlich das Gleiche durchgemacht wie ich. Kannst Du mich sehen?“
Morghus war verwirrt, er kannte diese Stimme, und doch klang sie so ganz anders, als er sie in Erinnerung hatte. Was aber noch schlimmer war, er konnte sich nicht erinnern, wem die Stimme gehörte. Sein Unterbewusstsein hatte eine Antwort parat, sie lautete Peter, doch das war mit Sicherheit falsch.
„Ich bin es, Auryghor. Dein Freund.“
„Wer?“ fragte Morghus.
„Sieh mich an!“
Er blinzelte und sog instinktiv die Luft ein, wie ein Tier, das ein anderes beschnupperte.
Ein unbekannter, aber ihm sehr angenehmer Geruch füllte seine Sinne, ein Geruch nach nassem Eisen und Leder, mit einer Spur von Schwefel und Schießpulver.
„Das gibt’s doch nicht!“ entfuhr es Morghus in einem dumpfen Grollen.
Vor ihm stand, nein, posierte stolz ein Drache.
Er mochte um die drei Meter Schulterhöhe haben und sein Leib war besetzt von goldenen Schuppen.
Aus dem wuchtigen Schädel wuchs ein Paar leicht nach hinten gebogener Hörner. Eine durchscheinende Haut, die sich über mehrere Gesichtsstacheln spannte, bildete zwischen Nacken und Maul eine Art Halskrause.
Auryghors Schnauze war relativ lang, mit ausgeprägten Nüstern an ihrem Ende. Obwohl das Maul geschlossen war, war auf jeder Seite immer noch der eine oder andere Zahn sichtbar, ähnlich wie bei einem Krokodil. Die beiden oberen Reißzähne standen über und gaben Auryghor zusammen mit dessen grün schimmernden Reptilienaugen ein keckes Aussehen.
„Du siehst... einfach phantastisch aus“, rief Morghus und erschrak, als er seine eigene Stimme wie einen Donnerschlag vernahm.
„Aber was ist passiert und wo sind wir?“ fügte er leiser hinzu.
Auryghor schüttelte den Kopf und grollte leise.
„Ich weiß es leider nicht. Offenbar sind wir aber immer noch in dem Raum, in dem wir eingesperrt worden sind. Aber ich erinnere mich nur noch an ganz wenige Details von dem, was passiert ist. Wir wurden eingesperrt, und dann war da so eine Dunkelheit, bis schließlich viele Drachen auf mich zukamen. Dann weiß ich nur noch, dass ich furchtbare Schmerzen hatte und ohnmächtig wurde. Als ich aufwachte, war ich ein Drache. So wie Du auch.“
„Wie ich auch?“ fragte Morghus und dann fiel ihm eine dunkle Fläche in seinem Blickfeld auf, genau an der Stelle, an der bei einem Tier üblicherweise eine Schnauze… sein würde?
Täuschte er sich, oder hatte sich auch seine Wahrnehmung geändert? Seine Sinne schienen jetzt viel ausgeprägter zu sein als früher.
Er warf einen Blick auf seine Hände. Er hatte Klauen! Sie waren schuppig, jede Schuppe schien wie aus schwarzem Ebenholz geschnitzt. Die drei Klauen liefen so wie die zusätzliche Daumenklaue in sichelartige, weiße Krallen aus, auch die Tatzenballen waren weiß.
„Was habe ich für Augen?“ fragte Morghus aufgeregt.
„Lass mich sehen“, antwortete Auryghor und blickte seinem Freund tief in die Augen.
„Wow! Herrlich gelbe Augen, wie sie ein Tiger auch hat. Du siehst überhaupt prächtig aus, mit Deinen tiefschwarzen Schuppen, die einen schicken Kontrast bilden zu den weißen Brust- und Bauchschuppen.“
„Die sind weiß?“
„Ja, makellos weiß“, bestätigte Auryghor und fügte lächelnd hinzu, „frag mich nicht, wo ich das her habe, aber ich kann nur sagen: So weiß wie Schnee und so schwarz wie Ebenholz. Hier, sieh selbst!“
Auryghor zeigte auf eine übergroße Tür aus auf Hochglanz poliertem Edelstahl.
„Die war aber gestern noch nicht da“, stellte Morghus fest und betrachtete nicht ohne einen gewissen Stolz sein Spiegelbild.
„Leider ist sie auch abgeschlossen, ich hab’s schon probiert“, sagte Auryghor.
Doch Morghus war so sehr damit beschäftigt, sich selbst zu entdecken, dass er diese Bemerkung überhörte.
„Hmmm, ein Paar kraftvolle, lederne Schwingen“, brummte er zufrieden und entfaltete sie langsam. Die Unterseite der Membran war ebenfalls weiß, während die Schwingen an der Oberseite schwarz waren.
Sein langer, schuppiger Schwanz endete, wie es sich für einen richtigen Drachen gehörte, in einem pfeilförmigen Dorn. Vorsichtig versuchte er ihn hin und her zu bewegen, und siehe da, es klappte. Morghus Rücken wurde von der Stirn weg bis zur Schwanzspitze mit einem Rückenkamm geziert. Ohrenfinnen und ein Paar leicht geschwungener Hörner rundeten sein elegantes Erscheinungsbild ab.
„Doch, so kann ich mich sehen lassen“, brummte Morghus zufrieden und legte eine Pranke auf den Türgriff.
„Hmm, sie ist verschlossen.“
„Das habe ich Dir doch eben schon gesagt“, erwiderte Auryghor und ließ sich schwerfällig nieder.
„Und was machen wir jetzt?“
„Warten? Oder hast Du eine bessere Idee?“

Gerade als es sich auch Morghus bequem gemacht hatte, öffnete sich wie von Geisterhand die Tür und gab den Blick frei auf einen hell erleuchteten Korridor.
„Das soll jetzt wohl ein Witz sein?“ knurrte Morghus und mühte sich ab, auf seine vier Beine zu kommen, fiel aber sofort wieder hin.
„Mach Dir keine Sorgen“, sagte Auryghor und reichte seinem Freund eine stützende Pfote. „Das ging mir vorhin auch so, aber nach dem zweiten Mal Hinfallen hast Du den Bogen raus.“
Die beiden Drachen bewegten sich misstrauisch auf den Ausgang zu. Sie prüften schnuppernd die Luft und lauschten, doch ihre Sinne meldeten ihnen nichts Bedrohliches. Sie fassten sich ein Herz und betraten den Korridor. Hinter ihnen fiel laut krachend die Stahltür wieder ins Schloss und Auryghor hatte gerade noch rechtzeitig seine Schweifspitze in Sicherheit bringen können.

Auch der Korridor war vollständig weiß gekachelt und ihre Krallen verursachten laute Klickgeräusche auf dem Boden.
„Ich bin gespannt, wo der uns hinführt, ich spüre von vorne frische Luft“, bemerkte Morghus und Auryghor brummte eine unverständliche Antwort.
Seine Laune wurde von Minute zu Minute schlechter, zum einen fühlte er sich in diesem Gang beengt und zum anderen war er schlichtweg müde. Dass sich dazu auch noch ein massives Hungergefühl einstellte, machte die Lage auch nicht besser.
Plötzlich hielt Auryghor inne, sein Schweif zuckte leicht hin und her.
„Morghus, warte mal.“
„Was ist?“
„Hörst Du das?“
„Was?“
Morghus lauschte angestrengt, doch bis auf ein entferntes Rauschen konnte er nichts hören.
„Nein, ich höre nichts.“
„Da ist so ein Rauschen, ähnlich wie bei einem Radio, wenn der Empfang schlecht ist.“
„Gut, ja, das habe ich auch gehört, was soll damit sein?“
„Hör mal ganz genau hin! Da spricht irgendwer in dem Rauschen.“
Morghus konzentrierte sich und auf einmal hörte er es auch: Zwischen dem Rauschen war eindeutig eine Stimme zu hören, die jedoch eigenartig verzerrt und gedämpft klang.
„Man spricht mit uns!“ rief Morghus überrascht aus.
„Das ist eine Nachricht für uns, aber ich finde, sie gibt keinen Sinn.“
„Was für eine Nachricht? Ich habe immer nur so Wortfetzen wie Drachenleib und Meer und Land beben gehört.“
„So ähnlich“, sagte Morghus leise und nach einem kurzen Schweigen rezitierte er:

Bald schon Land und Meere werden beben
Wenn Drachenleiber sich zur Sonne stolz erheben

Die Welt wie sie bisher bestand
Bald nur noch aus Geschichten ist bekannt

„Das habe ich schon mal wo gehört“, stellte Auryghor fest.
„Ich weiß nur nicht mehr, wo. Ich glaube, ich habe das mal in irgendeiner Geschichte gelesen.“
„Hmm, diese Verse wiederholen sich jedenfalls ständig in diesem Rauschen. Vielleicht hat das ja auch gar nichts zu sagen. Komm, lass uns weitergehen.“

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37  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 08.April.2008, 19:03:03
Ihre Schritte klangen hohl, als sie den langen, von grellen Neonlampen beleuchteten Korridor entlang gingen. Das Blubbern einer arbeitenden Kaffeemaschine war aus einer offenstehenden Tür zu hören, der Kaffeeduft vermischte sich mit dem penetranten Geruch von Bohnerwachs. Doch über all dem lag wie ein zarter Schleier jener eigentümliche Duft, der ihnen schon auf ihrer Fahrt ins Präsidium aufgefallen war.
Glücklicherweise hatte man ihnen keine Handschellen angelegt.
Natürlich hatte Wolfgang die Kommissarin sofort gefragt, ob sie das Opfer des Skinheadangriffs war, doch hatte diese nur mit einem lapidaren „Da verwechseln Sie mich mit jemandem“ geantwortet.
Selbstverständlich. Eine Verwechslung.
Der Flur schien endlos und es wurde kein weiteres Wort mehr gesprochen. Peter und Wolfgang hatten sich mit der Situation fürs Erste abgefunden – was blieb ihnen auch anderes übrig. Am nächsten Tag würde sich hoffentlich alles aufklären.
Die Kommissarin blieb stehen. Sie hatten das Ende des Korridors erreicht, eine massive Brandschutztür.
„Wir sind da. Da hinein!“
Sie schloss die Tür auf und die beiden Männer betraten einen fensterlosen, vollständig weiß gekachelten Raum, der grell erleuchtet war. Auch entsprachen dessen Dimensionen eher denen einer kleinen Lagerhalle als denen einer Gefängniszelle.
„Was...“, begann Wolfgang, doch die Tür war bereits wieder verschlossen worden.
„Das darf doch alles nicht wahr sein“, seufzte er und sah sich um.
Ihr Gefängnis war absolut leer. Selbst der Boden bestand aus den gleichen weißen Kacheln. Es gab keine Pritsche, keinen Tisch, nicht einmal einen Stuhl.
„Ich verstehe das nicht. Ich hoffe nur, dass die Nacht bald zu Ende geht.“
Peter warf einen Blick auf seine Uhr, die Zeiger zeigten halb Zwei.
„Na toll, meine Uhr ist stehen geblieben.“
„Ach, Deine auch?“ erwiderte Wolfgang.
„Meine ist um halb Zwei stehen geblieben.“
„Was? Ob Du’s glaubst oder nicht, meine auch!“
„Hmm, halb Zwei... das war doch ungefähr die Zeit, als wir zum Praterstern gekommen sind. Bevor die Skinheads gekommen sind.“
„Ich werde nicht schlau aus dem ganzen. Wolfgang, was geht hier ab? Skinheads attackieren eine Frau, die der Kommissarin zum Verwechseln ähnlich sieht, wir werden festgenommen und uns werden irgendwelche absurden Delikte zur Last gelegt. Das kann doch alles kein Zufall sein.“
„Ich weiß es nicht. Ich bin müde und ich will hier raus.“
Resigniert setzte sich Wolfgang auf den kalten Boden und lehnte sich gegen die Wand, Peter folgte dem Beispiel.
Die Zeit kroch wie Würmer über sie und trotz des grellen Lichts in der Zelle fielen ihnen irgendwann die Augen zu.

Wolfgang schreckte hoch.
„Peter?“
Er bekam keine Antwort und allmählich wurde ihm bewusst, dass er im Finsteren saß. Offensichtlich hatte man das grelle Neonlicht endlich ausgeschaltet. Aber irgendetwas war anders.
„Peter? Bist Du wach?“
Wolfgang horchte in die Dunkelheit, doch es war nicht das Geringste zu hören. Vorsichtig tastete er nach seinem Freund – und erschrak. An der Stelle, wo er zuvor gesessen hatte, war niemand mehr.
„Peter, bitte, das ist nicht witzig!“ rief Wolfgang und erhob sich.
Langsam tastete er sich an der Wand entlang, da er nicht das Geringste in der Dunkelheit erkennen konnte. Die Kacheln fühlten sich eigenartig an, rau und warm, beinahe pulsierend.
Unbehagen breitete sich in ihm aus. Das schien nicht mehr die Zelle zu sein, in die man Peter und ihn eingesperrt hatte. Aber was war geschehen? Hatte man sie, während sie schliefen, voneinander getrennt? Nur, aus welchem Grund?
Wolfgang machte einige unbeholfene Schritte in die Dunkelheit. Auch der Boden unter seinen Füssen war ein anderer. Anstelle der kalten, harten Kacheln ging er auf etwas, das sich wie eine dicke Lage Staub oder Sand anfühlte.
Die Dunkelheit schien noch undurchdringlicher zu werden und legte sich wie ein bleierner Mantel über Wolfgang, drohte ihn zu ersticken, zu verzehren.
„Peter? Peter, wenn Du da bist, bitte sag was. Irgendwas! Ich drehe noch durch!“
Doch obwohl er diese Worte förmlich herausgeschrieen hatte, wusste Wolfgang, dass sie von der Finsternis geschluckt worden waren und sie niemand hören konnte...
...Und dennoch, irgendwer oder irgendetwas gab eine Antwort, unendlich weit entfernt und doch explodierte die Stimme in seinem Kopf.
„Wolfgang? Wolfgang? Ich bin da, wo bist Du? Morghus? Morghus! Bist Du es, Morghus?“
Morghus? Wieso Morghus? Was ist Morghus?
Wolfgangs Gedanken rasten. Es war Peters Stimme, ohne Zweifel, nur, wo war er? Und weshalb spricht er von Morghus?
Auf irgendeine Weise war Wolfgang das Wort Morghus vertraut, es war etwas, das in seinem tiefsten Inneren schlummerte, immer schon da gewesen war, vom Anbeginn der Zeit an, und es würde immer noch da sein, wenn Wolfgang nicht mehr sein würde.
Er konnte seinen Freund immer noch nicht sehen, er fühlte nur seine Anwesenheit, doch das mochte auch bloß eine Sinnestäuschung sein. Finsternis umgab ihn immer noch, aber von dem Wort Morghus ging ein gewisser Trost aus, Wärme und Geborgenheit.
Ein schwacher Luftzug umspielte sein Gesicht, ein schwül-warmer Lufthauch, der den Duft von Räucherwerk in seine Nase brachte...
Ein dumpfes Rauschen klang in seinen Ohren, ein Brausen wie die Brandung eines fernen Ozeans, wie das Schlagen gewaltiger Schwingen...
Ein diffuses Schimmern in der Ferne drang in die bisher undurchdringliche Finsternis, wie der Strahl eines Suchscheinwerfers, der sich in die Nacht tastet, wie das leitende Licht eines Leuchtturms einem verirrten Schiff in der Dunkelheit den Weg in den sicheren Hafen weist...
„Peter? Bist Du es? Hörst Du das auch?“
Wolfgang wusste instinktiv, dass seine Frage fehlerhaft war. Peter war falsch. Peter war immer schon falsch gewesen, wie das Wort Salz auf einem Streuer, der Pfeffer enthielt. Ein falsches Label, so wie auch Wolfgang ein falsches Label war für etwas, das Morghus hieß, immer schon Morghus geheißen hatte.

In diesem Augenblick zerriss der Schleier der Finsternis um ihn herum, das Brausen wurde zu einem Orkan in seinen Ohren. Gewaltige Flügelschläge. Etwas kam, um ihn zu holen, ihn und seinen Freund, den Nicht-Peter.
Das Schimmern wurde zu einem goldenen Glanz, der Ton der schlagenden Schwingen schwoll immer weiter an.
Ein nie gerochener und doch vertrauter Geruch füllte seine Nase und dann sah er sie...
Drachen! Dutzende, Hunderte, Tausende... alle Drachen der Welt!
Funkelnde und glitzernde Schuppen, goldene und silberne, kupferschimmernde und blauglühende Reptilienleiber, gigantisch groß und dann wieder klein wie Ponys...
Die Drachen, die er schon immer geliebt hatte, Drachen, in deren Körper zu stecken er sich schon immer gewünscht hatte...
Sie umspülten ihn, wie die Brandung einen Felsen im Meer umschließt, rissen ihn mit sich, ein Strom aus purer Energie und Lebensfreude, aus schöpferischer Kraft und Zerstörung.
Er fühlte ihre Schuppen, ihre Schwingen liebkosten ihn und er roch ihren wilden, aufregenden Duft.
Es dauerte Sekunden oder Minuten oder Jahrhunderte, die Zeit war bedeutungslos geworden.
Alles war bedeutungslos geworden, nur noch Morghus war von Bedeutung und in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er Morghus war, immer schon gewesen war. Die Erinnerung an Wolfgang erlosch wie ein Funken einer Wunderkerze, der in einen Haufen Schnee fällt.

Er war immer noch inmitten der Drachen, der Strom schien kein Ende zu nehmen und das Reiben ihrer Leiber an seinem Körper ließ sein Gewand zu Fetzen werden, bis er schließlich völlig nackt und entblößt in diesem Meer aus Drachenleibern war.
Ein Schwindelgefühl kam auf und führte zu einer Übelkeit, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben gekannt hatte.
Und dann kam der Schmerz.
Wie ein gleißender Blitz einen Baum spaltet, so durchdrang ihn der brennende und beißende Schmerz, ließ ihn qualvoll aufbrüllen.
Die Drachenleiber drängten dichter an ihn heran, fixierten ihn auf diese Weise in der Qual. Knochen in seinem Leib wurden verformt, manche barsten, manche schienen zu wachsen, andere verschoben sich.
Sein Kopf drohte zu zerspringen, ein gewaltiger Druck im Inneren seines Schädels ließ ihn beinahe ohnmächtig werden. Gewaltige Explosionen eines nie zuvor gefühlten Schmerzes trieben ihn in den Wahnsinn. Dann brach etwas durch seine Schädeldecke und seinen Nacken, seine Hände und Füße verformten sich und auch seine Haut verhärtete sich, wurde zu Horn, schwarz schimmernd...
Das letzte, das er sah, waren die Drachen, die immer noch auf ihn eindrängten, dann verlor er sein Bewusstsein.

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38  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 08.April.2008, 19:02:06
Das Straßenpflaster glänzte nass durch den zähen Nebel, der sich in dieser ungemütlichen Nacht über Wien gelegt hatte, und reflektierte blinkende, grelle Neonreklamen.
Aus einer sich öffnenden Tür drangen einige Augenblicke lang ein Fetzen Licht und das dröhnende Wummern von Bässen. Ein viel zu künstlich klingendes Frauenlachen war zu hören und eine vermummte Gestalt verließ eilig mit gesenktem Kopf das Etablissement, über dessen Tür in kalten, rosa Neonlettern Club d’Amour zu lesen war.

Den beiden Männern, die in dieser Novembernacht durch diese Straße liefen, war durchaus bewusst, dass sie sich in einem üblen Viertel befanden, in dem Prostitution und Drogenhandel an der Tagesordnung waren und hier auch des Öfteren Gewaltverbrechen verübt wurden. Die Schattenseiten einer Metropole eben…
„Ja, Du siehst, das ist die Kehrseite des Wiener Praters. Nicht das Riesenrad und die Achterbahnen und der weltberühmte Kalafatti, den wir vorgestern besichtigt haben“, erklärte Wolfgang seinem Freund aus Deutschland, den er für einige Tage zu Besuch hatte.
Sie kannten sich schon seit Jahren über das Internet, hatten sich auch schon einige Male zu verschiedenen Anlässen getroffen. Beide hatten sich über das Europäische Fantasyforum kennengelernt, eine Plattform für Fantasyfans und Rollenspieler.
Sie kamen gerade von einem solchen Rollenspielabend, bei dessen Verlauf unter anderem reichlich Whiskey-Cola geflossen war. Die letzte U-Bahn hatten sie verpasst und nun mussten sie per Pedes zu der Schnellbahnhaltestelle Praterstern gelangen. Ein Taxi konnten und wollten sie sich nicht leisten, außerdem hatte Wolfgang Peter glaubhaft versichert, dass es nicht allzu weit sein würde. Tatsächlich marschierten sie schon seit einer guten Stunde.
„Wart mal“, rief Peter aus, der vor einem Zeitungskasten stehen geblieben war.
„Schau Dir mal die Schlagzeile an!“
Schwarz-goldener Riesenadler attackiert Pensionärin im Naturhistorischen Museum

„Komm, Du wirst doch den Schmarr’n net glauben. Unsere Kronen-Zeitung ist vom gleichen Kaliber wie Euer Boulevardblatt, mit dem man sich die Meinung bilden soll, oder die englische Sun.“
„Irgendwie interessiert mich das aber schon.“
Peter steckte die abgezählten Münzen in den Schlitz und entnahm eine Zeitung.
„Gestern schreiben die was von einem Riesenwolf, den ein Jäger in seinem Wald gesehen hat, und bevor ich weggeflogen bin in München, hat man über der Nordsee UFOs gesichtet. Ich sag’s Dir, da ist was im Gange.“
„Ja, die wollen Geld verdienen“, knurrte Wolfgang.
„Ewig die gleichen Schlagzeilen über Al Quaida oder Steuererhöhungen oder Pensionskürzungen interessieren halt keinen mehr. Und jetzt lass uns einen Zahn zulegen, da vorne ist eh schon der Praterstern. Ich bin froh, wenn wir im Zug sitzen.“

Aus der Nebelnacht schälte sich das gemauerte Viadukt, auf dem die Schnellbahn ihre Trasse hatte, ähnlich den Stadtbahnen in Berlin. Das kalte Neonlicht durchdrang den Nebel wie der lotsende Strahl eines Leuchtturms.
Als sie die einsame Bahnhofshalle betraten, schlug ihnen der Gestank von Erbrochenem entgegen. Schnell stiegen sie die Treppe hinauf zu den Bahnsteigen. Bis auf eine Frau, deren Alter man nicht einschätzen konnte, da sie nahezu vollständig von einer Turka verschleiert war, war die Haltestelle menschenleer.
„Na toll“, rief Wolfgang aus als er auf die elektronische Anzeigetafel blickte, „vierzig Minuten Verspätung – das darf doch net wahr sein!“
„Vielleicht sollten wir dann doch ein Taxi nehmen? Die Welt wird es schon nicht kosten“, schlug Peter vor.

Lautstarkes Gegröle und das Poltern schwerer Stiefel unterbrachen die Überlegungen der beiden Freunde. Eine Gruppe Skinheads, fünf sehr stark alkoholisierte junge Männer, sie mochten gerade ihre Volljährigkeit - zumindest auf dem Papier - erreicht haben, wankten den Bahnsteig entlang.
„Gibt’s das Pack also auch bei Euch in Österreich?“ fragte Peter leise.
„Ja, die haben uns gerade noch gefehlt. Die Szene war schon immer da, aber seitdem wir so viele Einwanderer aus Osteuropa haben, sind auch die Rechten auf dem Vormarsch.“
„Waun i’s da doch sog, Schurli. De Hua hot si vor ollen hiknieat und mir aan blos'n. Geh hoit morgen mit ins Stodtbeisl, de Lissi kennt do a jeder.“
„Ah geh heast, so a Bledsinn, des glaubst doch sowas net. A Beisl is guat, I brauch wos zum Sauf’n…“
Die Gesprächsfetzen drangen zusammen mit den Alkoholfahnen zu Wolfgang und Peter, worauf diese sich in stiller Übereinkunft anschickten, die Haltestelle zu verlassen und sich nach einem Taxi umzusehen.
Der helle Schrei einer Frau ließ sie innehalten.
„Ah, da schau her, a Verschleierte!“ rief einer der Skins und der Pulk stürzte sich auf die wartende Frau.
Eine Flut von obszönen Rufen wie „Kommt’s, schau’n wir uns mal ihr Scherzerl an!“ und „Jetzt kannst Du nach Deinem Allah oder nach Deinem Achmed schrei'n, Du geile Sau!“ übertönte die Angstschreie der angegriffenen Frau, die nicht die geringste Chance hatte gegen die Neonazis.
„Wolfgang, hast Du Dein Handy da? Wir müssen was tun!“, rief Peter entsetzt, doch Wolfgang hatte bereits reagiert und den Notruf gewählt.
Sachlich und ruhig gab er die benötigten Informationen durch.
„Die Streife und wohl auch ein Sanker werden gleich da sein. Das Kommissariat ist nicht weit weg von hier“, sagte er.

Die Skinheads hatten die Frau niedergeschlagen und schickten sich an, sie zu vergewaltigen, aber noch bevor ihrem unglücklichen Opfer noch mehr Unheil widerfuhr, stürmten mehrere Polizisten die Schnellbahnhaltestelle.
Es gab eine grobe Rangelei, doch nach einiger Zeit klickten schließlich die Handschellen und die Neonazis wurden abgeführt, einige von ihnen bluteten aus den Nasen oder hatten Zahnlücken.
Eine Kommissarin kümmerte sich zusammen mit den mittlerweile eingetroffenen Sanitätern um die angegriffene Frau. Bis auf einige Prellungen und Blutergüsse war sie mit dem Schrecken davon gekommen.

„Sie haben uns verständigt?“
Zwei Polizisten hatten sich vor Wolfgang und Peter aufgebaut, in der Stimme des fragenden Uniformierten schwang ein drohender Unterton mit.
„Das war ich, ja“, antwortete Wolfgang.
„Ich muss Sie beide bitten, uns auf das Kommissariat zu begleiten. Wir müssen Ihre Personalien aufnehmen, da wie Sie als Zeugen der kriminellen Handlung benötigen. Reine Routine, Sie verstehen?“
„Können wir das nicht hier gleich an Ort und Stelle erledigen? Wir sind todmüde und wollten eigentlich den letzen Zug…“
„Ich sagte, dass Sie uns auf die Wache begleiten werden. Das war keine Frage, sondern eine Vorladung. Ich kann Sie beide aber auch in Arrest nehmen, wenn Ihnen das lieber ist.“
Die Schärfe in den Worten des Uniformierten alarmierte die beiden Männer. Irgendetwas drohte aus dem Ruder zu laufen. Wer hat hier denn nun eine Straftat verübt?
Peter wollte gerade etwas erwidern, doch Wolfgang warf ihm einen beschwörenden Blick zu und lenkte ein: „Das wird nicht nötig sein, wir kommen mit.“

Offensichtlich waren die Polizisten mit mehreren Einsatzfahrzeugen angerückt, denn die Rechtsradikalen und die übrigen Beamten waren nicht mehr zu sehen; sie waren wohl schon unterwegs zur Wache.
Der Nebel war noch dichter geworden und der vor der Schnellbahnstation auf dem Trottoir abgestellte Streifenwagen schien das einzige Fahrzeug weit und breit zu sein. Das kalte Neonlicht der Haltestelle ließ das nebelnasse Polizeiauto eigentümlich glänzen.
Schweigend nahmen Wolfgang und Peter auf der Rückbank Platz und schon nach wenigen Augenblicken setzte sich das Fahrzeug in Bewegung.
Man konnte so gut wie gar keinen Straßenverlauf erkennen, dennoch schienen sie förmlich über den Asphalt zu fliegen.
Unwillkürlich musste Peter an sein Strafmandat denken, das er vor einiger Zeit erhalten hatte, wegen nicht an die Witterungsverhältnisse angepasster Geschwindigkeit. Bei deutlich lichterem Nebel als in dieser Nacht war er damals mit Tempo Fünfzig gefahren. Doch nun schienen sie mit gut hundert Sachen durch die leeren Straßen Wiens zu rasen.
Das muss ein Albtraum sein, dachte sich Peter und warf einen Blick auf seinen Freund. Offensichtlich dachte dieser dasselbe, doch bevor er irgendetwas sagen konnte, bremste der Streifenwagen abrupt ab.
„Wir sind da“, raunzte der Fahrer, während sein Kollege bereits ausgestiegen war und die hintere Tür geöffnet hatte.
Die beiden jungen Männer stiegen aus und erst in der nebelnassen Luft wurden sie sich des eigentümlichen Geruchs innerhalb des Autos so richtig bewusst. Zwar war er beiden aufgefallen, ein unterschwelliger Duft wie nach abgebrannten Feuerwerksraketen, aber sie maßen diesem Umstand keine weitere Bedeutung bei.
Jetzt allerdings, in dem immer noch zähen Nebel, in der dunklen Gasse, nur erhellt durch das milchig schwache Licht der Straßenlaternen, vor einem bedrohlich wirkenden Gebäude, das vorgab, eine Polizeiwache zu sein, drängte sich die Wahrnehmung dieses Geruchs förmlich auf. Wie in einem Horrorfilm, dachte sich Peter.
„Komisch, ich habe gar nicht gewusst, dass hier ein Kommissariat ist“, sagte Wolfgang leise.
Es schien alles so unwirklich, selbst die vor dem Gebäude parkenden Polizeifahrzeuge schienen hier nicht hinzugehören.
„Na los, gemma, meine Herren!“ wurden sie aufgefordert.

Sogar die Amtsstube, in der sie nun saßen, wirkte seltsam unecht. Wie eine Filmkulisse.
Die beiden Polizisten, die Wolfgang und Peter hergebracht hatten, waren in irgendeinem anderen Büro verschwunden, dafür saßen sie einem grauhaarigeren, etwas übellaunig wirkenden Beamten, der sich als Kommissar Brandmeier vorgestellt hatte, gegenüber.
Er hatte ihre Personalien aufgenommen und ein triumphierendes Lächeln lag jetzt auf seinen Lippen.
Er wandte sich an Wolfgang, nachdem er eine Weile auf seinen Monitor geblickt hatte.
„Sie sind ja kein Unbekannter für uns. Drogenbesitz und Drogenkonsum. Was hamma denn heute im Prater so gemacht?“
„Was? Das soll wohl ein Witz sein?“ rief Wolfgang entgeistert.
„Ich habe noch nie was mit Drogen zu tun gehabt, und mit der Polizei hatte ich auch noch nie einen Wickel.“
„Steht aber im Polizeicomputer“, erwiderte Brandmeier ungerührt.
„Also, was hat sich am Prater abgespielt? Wo haben Sie den Stoff hin?“
„Was reden Sie da?“ Wolfgang war mit seiner Geduld am Ende.
„Jetzt hör’n Sie mal gut zu. Wir haben die Polizei verständigt, weil Skinheads eine Frau angegriffen haben und die dann uns vielleicht auch noch fertig gemacht hätten. Wir sind müde und wollten eigentlich nur nach Hause, doch jetzt sitzen wir hier und Sie beschuldigen mich, irgendwas mit Drogen zu tun zu haben, was ein totaler Blödsinn ist. Das brauche ich mir nicht bieten lassen!“
„Sachte, Bürscherl. Mit dem Vorstrafenregister würde ich schön d’ Gosch’n halten.“
In der Stimme des Beamten schwang ein drohender Unterton mit. Er wandte sich an Peter.
„Na gut, vielleicht sind Sie ja kooperativer als Ihr Freund. Sie sind ja auch kein unbeschriebenes Blatt und bei unseren Bayerischen Kollegen in der Fahndung. Die gleichen Delikte wie bei Ihrem Spezi da.“
Peter war wie vom Donner gerührt.
„Das gibt’s nicht. Ich weiß nicht, was Sie da lesen, von wo sie diese sogenannten Informationen haben. Ich hab noch nie was mit Drogen zu tun gehabt, außerdem kann ich mir schon von Berufs wegen gar nicht leisten, mir etwas Derartiges zuschulden zukommen lassen!“
Er schloss die Augen und zählte leise bis Zehn. Wenn er die Augen öffnete, würde er im Bett sitzen und erleichtert feststellen, dass das Ganze nur ein wirrer Traum war. Doch als Peter die Augen wieder öffnete, waren da immer noch die altmodisch eingerichtete Amtsstube, der grauhaarige Beamte und sein Freund Wolfgang, den man so wie ihn selbst völlig zu Unrecht beschuldigte. Die ganze Situation war einfach zu absurd, um real zu sein.
„Wir sind bei der Versteckten Kamera oder so was“, entfuhr es Peter.
„Das Ganze hier ist nur eine Kulisse und gleich kommt irgendein Showmaster und klärt uns auf.“
Aber es kam kein Showmaster. Stattdessen hatte sich der Kommissar erhoben und hatte die Tür geöffnet. Er rief nach einer Kollegin.
Als die Kommissarin das Zimmer betrat, erkannten sie Wolfgang und Peter sofort – nur ergab es einfach keinen Sinn, was sie sahen…
Sie beide waren dieser Person schon einmal begegnet, doch da war sie völlig verschleiert gewesen. Dennoch wussten sie, dass diese Beamtin jene Frau war, die vorhin von den Skinheads bedrängt worden war, auch wenn nun an ihr nicht das Geringste orientalisch wirkte. Trotzdem war das hundertprozentig die Frau vom Praterstern, Wolfgang und Peter hätten darauf jeden Eid geschworen.
„Britta, führ die beiden ab!“
Die Stimme des Kommissars drang nur langsam in ihr Bewusstsein.
„Meine Herrn! Wegen Ihnen habe ich heute Überstunden machen müssen, mir reicht’s, ich mach Feierabend. Eine Nacht in U-Haft, da fällt Ihnen dann bestimmt ein, was heute im Prater passiert ist!“

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39  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 08.April.2008, 19:01:00
Metamorphose III (Novembernächte)


Die Sonderausstellung über die Steinzeitkunst im Wiener Naturhistorischen Museum war ein Publikumsmagnet, vor allem an einem so grautrüben Herbsttag. Doch jetzt, gegen Abend, leerten sich allmählich die etwas überheizten Räume und die Besucher drängten hinaus ins Freie.
In der paläontologischen Abteilung waren nur noch drei Personen, darunter eine junge Mutter mit ihrer etwa siebenjährigen Tochter, die voller Faszination das nahezu vollständig erhaltene Skelett eines Papageienschnabel-Dinosauriers betrachtete.
„P…psitta…co…saurus“, versuchte sich das Mädchen an der kleinen Erläuterungstafel.
„Sehr schön, Paulinchen“, lobte sie ihre Mutter, eine Touristin aus Norddeutschland. „Das ist ein Psittacosaurus. Schau, der hat vor fast Hundertmillionen Jahren gelebt.“
„So wie die Frau da in der Ecke“, kicherte die Kleine und zeigte auf die dritte im Saal anwesende Person, eine ältere Dame, die offensichtlich auf einem der für die Besucher gedachten Stühle eingeschlafen war.
„Das ist aber nicht nett“, tadelte die junge Frau ihre Tochter und wollte gerade mit ihr zum Ausgang gehen, als das Mädchen ausrief: „Oh, da hinten, hinter dem Skelett, da hat sich was bewegt! Was Schwarzes, mit Flügeln dran.“
„Was? Wo?“ Die deutsche Touristin blickte in die angegebene Richtung, konnte aber nichts erkennen. „Mein Schatz, mit Dir ist gerade die Phantasie durchgegangen. Hast Du Deinen Fuchur? Dann lass uns in den nächsten Raum gehen – siehst Du, da wartet schon der T-Rex auf Dich.“
Das Mädchen drückte ihren Fuchur, einen kleinen weißen Spielzeugdrachen aus Plüsch, feste an ihre Brust und flüsterte ihm zu: „Gell, Du hast das auch gesehen?“

Seit sie dieses Spielzeug an diesem Morgen geschenkt bekommen hatte, trug sie es unermüdlich bei sich und jedes Angebot ihrer Mutter, den Plüschdrachen für sie im Rucksack zu transportieren, wurde mit Entrüstung zurückgewiesen: „Würdest Du Deinen Freund in eine Tasche sperren?“
Gegenüber der Pension, in der Mutter und Tochter sich für einige Tage einquartiert hatten, befand sich ein kleiner Trödelladen, in dessen Schaufenster allerlei Kunst und Krempel zu bewundern war: Ein altes Trichtergrammophon, eine richtige Ritterrüstung mit dem dazugehörigen Wurfspieß und irgendwelche Einrichtungsgegenstände aus der Jugendstilzeit. Besonders angetan war das Mädchen jedoch von einer eher kitschigen denn wertvollen Porzellanplastik, die den Heiligen Georg zeigte, der gerade im Begriff war, einen furchteinflößenden Drachen, der in der Relation zu dem Pferd, auf dem der Ritter saß, die Größe eines Schäferhundes hatte, zu spießen. Jedesmal beim Verlassen oder Betreten der Pension musste dem Geschäft ein Besuch abgestattet werden und Paula drückte sich ihre Nase an der nicht ganz so sauberen Schaufensterscheibe platt. Aus irgendeinem Grund gefiel ihr dieser Drache, der bis auf die Bauchpartien schwarz lackiert war, außerordentlich gut, doch natürlich reichte ihr Taschengeld nicht aus, sich diese Plastik zu kaufen. Und ihre Mutter hatte gerade noch gestern erklärt, dass eine solche Scheußlichkeit nicht in ihre Wohnung käme.
Heute Morgen jedoch war der Inhaber des Ladens besonders früh da und als er sah, wie sehnsüchtig Paula diese Figur betrachtete, fragte er sie, ob sie sich für Ritter interessiere.
Als sie ihn antwortete, dass ihr nur der Drache gefalle und sie es so traurig und gemein fände, dass er von dem sogenannten Heiligen umgebracht würde, lächelte der Mann und sagte ihr, dass er vielleicht was für sie hätte und sie kurz warten sollte.
Die junge Frau, der das alles sichtlich peinlich war, ohne das es dafür irgendeinen Grund gegeben hätte, versuchte, Paula zum Weitergehen zu bewegen, doch sie weigerte sich erfolgreich. Schließlich kam der Inhaber zurück, mit jenem Plüschtier, das, freilich jetzt ziemlich verstaubt, den Glücksdrachen Fuchur darstellen sollte. Vor mehr als zwanzig Jahren wurden im Rahmen des Merchandisings zum Film Die Unendliche Geschichte zahlreiche dieser kitschig geratenen Plüschdrachen verkauft.
„Schau“, erklärte ihr der freundliche Ladeninhaber, „der hat hier die ganze Zeit schon auf Dich gewartet. Sein Name ist Fuchur und wenn Du gut auf ihn aufpasst, dann wird er Dir Glück bringen, das ist schließlich ein Glücksdrache. Hier, ich schenke ihn Dir.“
Seitdem hatte das Mädchen ihren neuen Freund keine Sekunde aus ihren Händen gegeben.

Ein durchdringender Schrei ließ Mutter und Tochter zusammenzucken.
Die alte Dame, die tatsächlich ein wenig vor sich hingedöst hatte, war sehr plötzlich erwacht und aufgesprungen, als etwas für den Bruchteil einer Sekunde ihr Gesicht gestreift hatte.
„Zu Hilfe! Mich hat ein Adler angegriffen!“ kreischte sie und fuchtelte wild mit ihren Armen umher.
Die junge Frau wirbelte herum und sie selbst spürte einen plötzlichen Luftzug. Aus ihren Augenwinkeln heraus meinte sie, etwas Schwarz-Goldenes gesehen zu haben…

„Was ist hier los?“
Das Geräusch laufender Schritte erklang und drei Museumsangestellte rannten in den Saal.
„Ich… ich bin angegriffen worden, von einem Tier!“ schrie die Dame schrill.
„Da fliegt ein Adler rum! Tun Sie doch was!“
„Bitte was?“
Dann wandte sich einer der Angestellten an die junge Frau: „Was ist passiert?“
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht genau. Meine Tochter hat irgendetwas gesehen, und dann hat auch schon diese Dame geschrieen.“
„Was hast Du denn gesehen?“
Der Museumsangestellte ging vor dem Mädchen in die Hocke.
„Ich weiß es nicht. Hinter dem Saurierskelett hat sich was bewegt, irgendwas Schwarzes. Und es hatte Flügel oder so. Ich hab’s aber nicht genau gesehen. Und mein Fuchur auch nicht.“
„Ein Adler! Ich sag’s Ihnen doch, das war ein Adler. Er hat mich angegriffen.“
Die Dame war völlig aufgelöst.
„Gnä’ Frau. Beruhigen’s Eana. Wir haben keine lebenden Adler hier. Sie haben schlecht geträumt. Gehen’s ham und trinken’s a Tasserl Tee auf den Schreck’n…“
„Was fällt Ihnen ein! Das lasse ich so nicht auf sich bewenden. Die junge Frau hat den Adler schließlich auch gesehen…“
„Stimmt das?“
Die junge Frau blickte sich hilflos um: „Ich bin mir nicht sicher. Ich habe aus den Augenwinkeln heraus nur eine Bewegung gesehen. Aber ich könnte das wirklich nicht beschwören.“
„Mama, vielleicht war es ja ein Drache?“ fragte das Kind und in dessen Stimme lag eher Aufregung und Freude als Angst.
„Was redest Du denn da für einen Unsinn, Kind“, fauchte die Mutter und wandte sich an einen der Angestellten: „Brauchen Sie uns noch?“
„Ich verlange, dass dieses Museum durchsucht wird. Holen Sie die Gendarmerie!“
Der Museumsangestellte seufzte: „Ich fürchte, dann werden wir Sie doch noch brauchen.“

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40  Atelier der Bewohner / Geschichten und mehr / Metamorphose III (Novembernächte) am: 08.April.2008, 18:59:25
So, hiermit ist mein dreiteiliger Metamorphosen-Zyklus beendet.
Viel Spaß beim Lesen
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